Mit freien und fairen Wahlen hatten diese Präsidentschaftswahlen nichts zu tun. Dies ist Prämisse für eine ehrliche Einschätzung des Wahlergebnisses in Russland. Die Wahlen wurden sowohl im Vorfeld, am Wahltag selbst und während der Auszählung beeinflusst und manipuliert. Das Ergebnis ist kein gewonnener Stimmungstest für Putin. Sämtliche Nachrichten, die von einem Rekordergebnis sprechen, sind produziert. Aber offensichtlich braucht Putin solche Nachrichten.
Das Ziel war klar: Zum ersten Mal seit Putins Amtsantritt sollte ihn in absoluten Stimmen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten wählen. Dafür wurde eine passende Gleichung aus Wahlergebnis und Wahlbeteiligung gebraucht, die mit dem offiziellen Endergebnis relativ genau getroffen wurde. Tatsächlich hat sich der gesamte Staatsapparat sehr ins Zeug gelegt, um das gewünschte Ergebnis zu produzieren.
Zuerst wurde die Kandidatur von Alexej Nawalnij verboten. Zu gefährlich wäre es gewesen, wenn er als Kandidat in den ihm zur Verfügung stehenden, kurzen, jedoch vorgeschriebenen Sendezeiten seine Ansichten vorgetragen hätte. Obgleich wohl 80 Prozent der öffentlichen Sendezeit allein zu Gunsten von Putin ging. Zum Teil wurden Mitarbeiter*innen in Staatsunternehmen und Studierende angewiesen, Fotos ihrer Wahlzettel aus der Wahlkabine zu machen, um nach dem Wahlgang gegenüber ihren Vorgesetzten zu beweisen, dass sie „richtig“ gestimmt haben. Menschen wurden telefonisch daran erinnert, doch wählen zu gehen. Mit großem Aufwand wurde auch die Anti-Putin-Kampagne Nawalnijs behindert. Immer wieder wurden Auftritte verhindert oder Festnahmen durchgeführt. Und wahrscheinlich wurde teilweise auch direkt gefälscht. So hat Putin wieder einmal ein Traumergebnis von 93 Prozent bei einer fast vollständigen Wahlbeteiligung in Tschetschenien erreicht. Auch der wundersame Anstieg der Wahlbeteiligung während der nächtlichen Auszählung lässt daran zweifeln, ob kurz vor Auszählungsende noch Millionen Stimmen einfach auftauchen können.
Dabei könnte man sich fragen: Wozu der Aufwand? Kaum ein Beobachter bezweifelt, dass Putin auch freie oder zumindest „freiere“ Wahlen gewonnen hätte. Offensichtlich sah man sich vor dem Hintergrund der Stimmung im Land gezwungen, nicht nur mit der Rede an die Nation und der Reaktion auf den Mordanschlag in England eine neue Phase der rhetorischen Aufrüstung gegenüber dem Westen einzuleiten, sondern auch noch einen scheinbar unanfechtbaren Liebesbeweis des russischen Volkes an ihren Präsidenten zu konstruieren.
Zudem war dem System Putin offenbar auch das Risiko zu groß, dass in freien Wahlen vielleicht doch eine zweite Runde der Wahlen notwendig werden würde.
Putins Strategie ist damit klar: Er begründet seine Herrschaft und damit das von ihm aufgebaute Machtsystem nicht als Politiker mit den besten Argumenten, sondern als ein der politischen Kontroverse enthobener, nationaler Führer, dessen Legitimität nicht einmal theoretisch in Frage zu stellen ist.
In dieser Inszenierung wird niemand im Land auf seine Augenhöhe gelassen, er schwebt über einer eher unfähigen Politikerkaste als die einzige Ausnahme, die einzig mögliche Perspektive für das Land. In diese Konstruktion passt keine politische Debatte, in der andere Kandidat*innen mit ihm streiten können. Rund 80 Prozent der Übertragungszeit im Fernsehen stellten Putin im Vorfeld der Wahl positiv dar. Die restlichen Show-Kandidaten bekamen nur eine einzige, obligatorische Fernsehshow, in der er fehlt und sich seine Gegner, angeführt vom Rechtsaußen Schirinowskij, anschrien und blamierten. Ein ernsthafter Gegenkandidat der ihn direkt fragen, ihm kontern oder vielleicht sogar widersprechen würde, hätte diese Inszenierung zerstören können. Wäre es in einer zweiten Wahlrunde zu einem direkten Duell gekommen, so wäre sicher zerstört worden.
Für diese Strategie braucht Putin die Außenpolitik. Seine Popularität und Legitimität beruhen wesentlich auf der neuen Stärke Russlands in der Weltpolitik. Nur dafür sind viele Menschen in Russland bereit, die Verschlechterung ihrer Einkommen in den vergangenen Jahren und die Aussichten auf eine nur sehr langsame, wirtschaftliche Erholung zu akzeptieren.
Putin spürt also, dass viele Menschen im Land Veränderungen wollen, er hat zudem die Verbesserung der Lebensverhältnisse im Wahlkampf versprochen. Offensichtlich hält er dieses Versprechen aber selber nicht für so überzeugend, dass er seine möglicherweise letzte Amtszeit nicht mit einer ambitionierten innenpolitischen Reformagenda verbinden will. Das Fantasieergebnis auf der Krim, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der dortigen Menschenrechtslage, als zweites Referendum über den Anschluss zu feiern, zeigt sehr offen, mit was für einer Amtszeit zu rechnen ist. Putin brauchte die Konfrontation mit dem Westen zur Mobilisierung der Wähler*innen im Schlussspurt vor der Wahl und wird sie weiterhin brauchen. Eine ernsthafte Entspannung oder gar eine Umkehr der russischen Politik, etwa die Ukraine betreffend, wird kaum zu erwarten sein.