Von: Manuel Sarrazin MdB (Sprecher für Europapolitik), Annalena Baerbock MdB (Sprecherin für Klimapolitik, Mitglied im EU-Ausschuss), Jan Philipp Albrecht MdEP (Innen- und Justizpolitischer Sprecher), Gerhard Schick MdB (Sprecher für Finanzpolitik), Sven-Christian Kindler MdB (Sprecher für Haushaltspolitik) – – – 12. Mai 2017
– – – – – – – – –
Wir sind froh, dass Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hat. Mit ihm gibt es die große Chance, neue Bewegung in die europäische Politik zu bringen. Gleichzeitig ist klar, dass Frankreich nicht alleine vorangehen kann. Es braucht jetzt Signale der europäischen Solidarität.
Die grüne Europapolitik ist klar: Wir wollen die EU-27 zusammenzuhalten und die europäische Integration vorantreiben. Wir stehen zum Projekt EU. Wir wollen keine Spaltung der EU in einen Euro-Exklusivclub und den Rest, so wie das Finanzminister Schäuble mit seinem Kerneuropa-Konzept vorhat. Eine enge und konstruktive Zusammenarbeit mit Frankreich ist für unsere europäische Zukunft von immenser Bedeutung. Der deutsch-französische Motor muss aber die gesamte EU im Blick haben und darf weder die kleineren noch die osteuropäischen EU-Staaten vor den Kopf stoßen.
Als pro-europäischste politische Kraft in Deutschland sollten wir den Rückenwind aus Frankreich mit konkreten Forderungen für kurz- und mittelfristige Maßnahmen und einer klaren Erwartungshaltung gegenüber der Bundesregierung unterstützen.
Auch wenn seine innenpolitische Agenda sich von grünen Vorschlägen deutlich unterscheidet, ist klar: Mit Macron eint uns die Begeisterung für die europäische Idee, die Überzeugung für die EU als unsere einzige Zukunft und die Einsicht zu notwendigen Reformen in Europa. Im Bereich der WWU eint uns das Ziel, der EU mit einem Dreiklang aus Investitionen, Reformen und Haushaltskonsolidierung zu neuem wirtschaftlichem Aufschwung zu verhelfen. Aber: bei der konkreten Umsetzung der gemeinsamen Ziele gibt es einige Differenzen, die wir versuchen sollten zu überbrücken. So lehnen wir bspw. seine Forderung nach einem eigenen Parlament für die Eurozone ab, weil damit u.a. das Europäische Parlament, die einzige von den Unionbürger*innen direkt gewählte EU-Institution, geschwächt würde.
Wir greifen deshalb die Forderungen von Macron auf und gehen auf sie ein mit konkreten Umsetzungsvorschlägen, die ohne Vertragsänderungen kurz- bzw. mittelfristig realisierbar sind und einen Weg zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion der EU-27 – ohne die Gefahr der Spaltung der EU oder gar der Entmachtung von Europäischem Parlament und EU-Kommission – aufzeigen. Auf diesem Weg wollen wir gemeinsam die nötige Handlungsfähigkeit der EU schaffen, die Macron zu Recht fordert.
A. Sieben Punkte für eine deutsch-französische EU-Agenda
1. Der deutsch-französische Motor als Garant für den europäischen Zusammenhalt.
Mit Emmanuel Macron gibt es die Chance, Europa wieder positiver zu besetzen und für die Umsetzung größerer Projekte zu streiten. Dabei muss das oberste Ziel eine EU sein, in der alle zusammenhalten und in der gegenseitiger Respekt und Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten gelebt wird. Eine Spaltung der EU in einen Euro-Exklusivclub und den Rest, in ein Kerneuropa und Peripherie lehnen wir entschieden ab.[1] Wir wollen eine EU mit einem verbindlichen und einheitlich geltenden Rechtsrahmen und starken EU-Institutionen, die auch gegenüber den großen Hauptstädten etwas zu sagen haben. Dennoch kann es in Ausnahmefällen notwendig sein, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten vorangeht, um ein Voranschreiten in wichtigen Themen zu ermöglichen. Diese verstärkte Zusammenarbeit muss stets allen offen sein, im Rahmen der EU-Verträge organisiert sein und die Rechte von EU-Kommission und EU-Parlament uneingeschränkt achten.
2. In die sozial-ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft investieren und so zur Bekämpfung hoher Arbeitslosigkeit in vielen Ländern beitragen.
Einseitige Sparpolitik wie sie jahrelang in der Eurozone betrieben wurde, ist kontraproduktiv. Der Investitionsbedarf ist enorm hoch. Die Vernachlässigung von Zukunftsinvestitionen und Strukturreformen sowie die Unsicherheit während der Eurokrise haben zu einem Investitionsstau in vielen Regionen Europas geführt und die Krise in vielen Ländern vertieft und verfestigt. Wir brauchen europaweit einen vernünftigen Dreiklang aus Investitionen, Reformen und ökologisch-sozial gerechter Haushaltskonsolidierung. Die Bundesregierung muss runter von der Investitionsbremse. Konkret heißt das:
- Die Bundesregierung sollte sich für die Schaffung eines neuen Zukunftsfonds im EU-Haushalt einsetzen, der mittels öffentlicher Investitionen die öko-soziale Modernisierung der europäischen Wirtschaft vorantreibt. Am Zukunftsfonds sollten sich alle EU-Staaten beteiligen dürfen, die sich im Rahmen Verstärkter Zusammenarbeit im Kampf gegen ungerechte Steuerpraktiken und Steuerhinterziehung engagieren. Viele Milliarden Euro gehen in der gesamten EU Jahr für Jahr durch Steuerhinterziehung und -umgehung verloren. Dies ist ein skandalöser Verlust an dringend benötigten Einnahmen, die öffentliche Investitionen im Rahmen des Zukunftsfonds finanzieren könnten.
- Deutschland muss mehr als bisher in den EU-Haushalt einzahlen
Aus Mitteln des EU-Haushalts werden schon heute größtenteils öffentliche Investitionen in wirtschaftlich schwächere Regionen der EU finanziert. Der EU-Haushalt ist aber schon heute unterfinanziert und könnte eine noch größere Rolle für Investitionen und die Lösung gemeinsamer Probleme, wie bspw. Migration und Grenzschutz, spielen. Zudem droht mit dem Brexit eine weitere Finanzlücke. Aufgrund des aktuellen Rabattsystems in der EU zahlt Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftsleistung weniger als Frankreich. Vor diesem Hintergrund fordern wir:
Die Bundesregierung muss in der anstehenden Überprüfung des EU-Haushalts seinen finanziellen Beitrag einseitig um 8 Prozent erhöhen. Das entspräche dem Anteil Deutschlands, um die aufkommende Brexit-Finanzlücke zu schließen und wäre ein wichtiges Signal nach Frankreich, dass Deutschland bereit ist, mehr zu europäischen Investitionen beizutragen.
In den Verhandlungen um den neuen Finanzrahmen der EU ab 2021 muss Deutschland bereit sein, mehr finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Mit dem Dogma von Merkel und Schäuble, die EU dürfe nicht mehr als 1% ihrer Wirtschaftsleistung ausgeben, muss Schluss sein, wenn die EU nach dem Brexit überhaupt noch handlungsfähig sein soll.
- Die Bundesregierung sollte in den EU-Investitionsfonds (EFSI) einzahlen, um mehr private Zukunftsinvestitionen in der EU zu ermöglichen. Damit würde Deutschland als wirtschaftlich stärkster EU-Partner seiner Verantwortung für die wirtschaftliche Erholung Europas gerecht werden. Frankreich gehört zu den Ländern, die derzeit am meisten vom EFSI profitieren. Der EFSI muss genutzt werden, um sozial-ökologische Investitionen in gemeinsame grenzüberschreitende Projekte zu realisieren, bspw. im Bereich der Digitalisierung oder im Energie-, Schienen- oder Forschungssektor.
- Die Bundesregierung muss die Möglichkeit eines europäischen Risikokapital-Fonds ausloten, um europäische Start-Ups zu unterstützen. Eine deutsch-französische Initiative könnte hier Vorreiter sein, andere Länder sollten sich anschließen können.
3. In Griechenland den Weg für eine dauerhafte Lösung ebnen.
Die einseitige Sparpolitik in Griechenland ist gescheitert. Für eine tragfähige Lösung braucht es gerechte und sinnvolle Strukturreformen, Zukunftsinvestitionen im Sinne eines Green New Deal und sozial-ökologisch gerechte Haushaltskonsolidierung mit einer Stärkung der Einnahmeseite beispielsweise durch ein gerechteres Steuersystem. Weitere sinnlose Sparmaßnahmen, die den Haushalt nicht strukturell konsolidieren, führen weiter in die Abwärtsspirale. Die Bundesregierung muss sich für einen fairen Deal für Griechenland einsetzen. Griechenland sollte den zusätzlichen Haushaltsüberschuss nutzen dürfen, um in den wirtschaftlichen Aufschwung zu investieren. Zudem sollten die Gewinne aus den EZB-Anleihekäufen endlich an Griechenland ausgeschüttet werden. Gemeinsam mit Macron und Frankreich muss die Bundesregierung für Schuldenerleichterungen in Griechenland eintreten.
4. Mehr Transparenz und demokratische Kontrolle der Euro-Gruppe.
Die Bundesregierung sollte einen Euro-Ausschuss im EU-Parlament vorschlagen, der starke Informationsrechte erhält und EU-Kommission und Eurogruppe stärker als bisher kontrolliert.
5. EU-Kommissar für die Wirtschafts- und Währungsunion als neuer Präsident der Euro-Gruppe.
Im Januar 2018 läuft die Amtszeit des amtierenden Präsidenten aus. Der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung sollte sein Amt übernehmen. Damit wäre auch die Politik der Euro-Gruppe stärker dem Europäischen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig.
6. CO2-Mindestpreises im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit einführen.
Derzeit gibt es auf europäischer Ebene nicht die notwendige Einstimmigkeit, um das EU-Emissionshandelssystem ambitioniert weiterzuentwickeln. Bei der Einführung eines Mindestpreises für CO2 sollten Deutschland und Frankreich deshalb die Initiative für eine Verstärkte Zusammenarbeit ergreifen und mit anderen Staaten den CO2-Mindestpreis einführen.
7. Europäische Staatsanwaltschaft im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit einführen.
Für die effektive grenzübergreifende Kriminalitätsbekämpfung braucht die EU nicht nur mehr Mittel für die Kooperation von Polizei- und Justizbehörden unter dem Dach von Europol und Eurojust, sondern muss auch den Schritt hin zu einer EU-weit handlungsfähigen Anklagebehörde freimachen. Der erste Schritt zur Bekämpfung der Korruption und Geldwäsche mit EU-Mitteln liegt auf dem Tisch und muss nun zügig Realität werden. Allein durch diese Straftaten gehen dem EU-Haushalt jährlich hunderte Millionen Euro verloren.
B. Kritik an der europapolitischen Haltung der Bundesregierung
- Die Bundesregierung hat es in den letzten Jahren versäumt, mit Verve für Europa einzustehen. Oftmals reagierte sie ablehnend anstatt mit klarer Haltung für europäische Solidarität zu kämpfen.
- Schäuble spielte sogar mit dem Grexit und hat damit nicht nur den Euro in Gefahr gebracht, sondern viel Porzellan in Griechenland und anderen EU-Ländern zerschlagen. Mit dieser hochriskanten Verhandlungsposition hat Bundesfinanzminister Schäuble mit dem Einverständnis von Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Vizekanzler Gabriel die Axt an die Grundwerte der EU gelegt und binnen zwei Tagen den seit Jahrzehnten bestehenden pro-europäischen Parteienkonsens in Deutschland aufgekündigt. Das war und ist eines deutschen Finanzministers unwürdig.
- Und nun will Schäuble den Rückenwind aus Frankreich nutzen, um sein Kerneuropa-Konzept durchzudrücken. Das finden wir falsch und europapolitisch brandgefährlich. Schäubles Konzept vom Umbau des ESM wäre nicht nur die Spaltung der EU in einen Euro-Exklusivclub und den Rest, was die Noch-Nicht-Euro-Staaten, die genauso dazu gehören, massiv vor den Kopf stoßen würden. Schäubles zwischenstaatliches Konstrukt würde auch die Kompetenzen von EU-Kommission und EU-Parlament massiv beschneiden. Beide Institutionen sind aber für einen gesamteuropäischen Interessenausgleich und die notwendige demokratische Kontrolle immens wichtig. Die EU braucht kein zwischenstaatliches Kerneuropa, in dem nur Deutschland und Frankreich das Sagen haben. Macrons Ziel für mehr europäische Investitionen unterstützen wir aber mit voller Verve. Dafür braucht die EU aber kein Kerneuropa, sondern zeitnah konkrete Maßnahmen.
- Wir sehen Frankreich als Partner auf Augenhöhe und nicht als verantwortungslosen Bittsteller. Deutschland muss auf Frankreich zugehen und nicht in alten überholten schwarz-weiß-Debatten verhaften. Macron will die Defizitkriterien einhalten. Macron geht es in Frankreich um Reformen und in Europa um gemeinsame Investitionen, die er allein nicht durchsetzen kann.
- Die Bundesregierung muss runter von der Investitionsbremse und ihrer wirtschaftlichen und politischen Verantwortung für die wirtschaftliche Erholung der EU gerecht werden. Kein anderes Land hat in den letzten Jahren finanziell von der „Euro-Krise“ so sehr profitiert wie Deutschland. Nun ist es Zeit, davon etwas zurückzugeben. Konkrete Maßnahmen liegen auf dem Tisch, viele davon zeitnah umsetzbar.
- Deutschland und Frankreich müssen wieder zum Motor der europäischen Integration und des europäischen Zusammenhalts werden. Die Bundesregierung muss den Rückenwind aus Frankreich nutzen um ein starkes Signal für Zusammenhalt und Aufschwung in Europa senden.
- Die europapolitischen Vorstellungen, die Macron in seinem Programm beschrieben hat, sind im Ziel progressiv, auch wenn es in der strukturellen Umsetzungen grundsätzliche Differenzen zu unseren Positionen gibt. Die Bundesregierung sollte die Ziele Macrons jetzt aufgreifen und gemeinsam mit Frankreich mit Leben füllen. Die Bundesregierung muss dabei aber in jedem Fall verhindern, dass sich unsere kleineren europäischen Partner und die EU-Staaten, die den Euro noch nicht eingeführt haben, übergangen oder abgehängt werden. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der anstehenden Brexit-Verhandlungen.
- Unser Ziel bleibt ein Europa, in dem alle zusammenhalten und gegenseitiger Respekt und Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten gelebt wird. Eine Spaltung der EU in einen Euro-Exklusivclub und den Rest oder ein Kerneuropa und Peripherie lehnen wir entschieden ab.
[1] * Eine Spaltung in Euroexklusiv-Club und den Rest würde mit dem Binnenmarkt auch einen Kernbestandteil der EU gefährden. Die Euro-Zone ist zudem kein statisches Konstrukt, sondern befindet sich im kontinuierlichen Wandel. Mit dem Vertrag von Lissabon haben sich alle EU-Staaten (Ausnahmen: GB und Dänemark) zur Euro-Einführung verpflichtet, sobald die im Vertrag festgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind. Ein Euro-Exklusivclub würde diese EU-Staaten unnötig vor den Kopf stoßen und sie von einem gemeinsamen Weg ausschließen. Außerdem wäre eine Spaltung aufgrund von wirtschaftlich engverwobenen Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten realitätsblind. So zählt beispielswiese Polen zu den wichtigsten deutschen Handelspartnern und Ungarn exportiert größtenteils in die Euro-Zone und als Produzent für Firmen aus der Euro-Zone in die ganze Welt. Wir haben deshalb nicht nur europapolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch kein Interesse, die Noch-Nicht-Euro-Staaten abzuhängen.