Zur Veröffentlichung der EU-Fortschrittsberichte erklären Claudia Roth MdB und Manuel Sarrazin, Sprecher für Europapolitik:
Die verspätete Veröffentlichung des EU-Fortschrittsberichtes nach den türkischen Parlamentswahlen ist symbolisch für das Einknicken Europas gegenüber der türkischen Regierung. Die AKP und Präsident Erdogan haben den Reformkurs schon vor langer Zeit verlassen. Der Fortschrittsbericht zur Türkei kritisiert zu Recht die Rückschritte bei der Durchsetzung von demokratischen Grundrechten wie der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit. Die AKP hat während des Wahlkampfs die Pressefreiheit massiv beschnitten und mit ihrer polarisierenden Politik die Gesellschaft gespalten. Das hätte schon im Vorfeld der Wahl offen angesprochen und kritisiert werden müssen. Stattdessen hat die Bundeskanzlerin mitten im Wahlkampf Präsident Erdogan mit ihrem Besuch eine Bühne geboten und die Kommission hat die Veröffentlichung der Fortschrittsberichte bis nach der Wahl verschoben. All das war Wahlkampfunterstützung für Premierminister Ahmet Davutoglu und seine AKP.
Um sich bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise die Unterstützung der Türkei zu sichern, darf es von Seiten der EU und Deutschlands keinen Rabatt bei den EU-Verhandlungen geben. Die Beitrittskriterien dürfen nicht für einen schlechten Deal in der Flüchtlingsfrage verwässert werden. Bundeskanzlerin Merkel hat jahrelang verhindert, dass ernsthaft mit der Türkei über einen Beitritt und die Erfüllung der Kriterien verhandelt wird. Jetzt rächt sich ihre Hinhaltetaktik.
Die EU muss ernsthaft mit der Türkei über den Beitritt verhandeln. Die Öffnung der Beitrittskapitel 23 und 24 zu Justiz, Grundrechten und Freiheit würde eine neue Dynamik in der Türkei in Gang setzen, sich mit ihren Problemen und erheblichen Defiziten bei Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten auseinanderzusetzen. Dafür muss die Türkei dringend die erforderlichen Reformen im Bereich Demokratie und Menschenrechte umsetzen. Außerdem muss die Regierung den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufnehmen. Eine Lösung des Konflikts kann nur demokratisch mit allen Parteien im Parlament erfolgen und nicht mit Gewalt.
Die Flüchtlingsfrage zeigt, wie wichtig die demokratische Entwicklung und Stabilität in der Türkei und im gesamten westlichen Balkan ist. Deshalb müssen die Verhandlungen auch mit den Beitrittskandidaten dieser Region vorangetrieben werden. Die EU-Perspektive für die Länder des westlichen Balkans ist wichtig, um den demokratischen Reformprozess zu beschleunigen und Gründe für Flucht zu minimieren.