Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von 2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Erweiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen, also am Ende dieses Jahrhunderts.
Wenn ich auf meine persönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu osteuropäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann ist für mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normal es heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist das Schönste.
Dass es so normal ist, ist das Besondere.
Dass es so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass das etwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augen halten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eine ökonomische und übrigens auch eine ökologische Transformation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswert ist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auch für diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind, durch die Erweiterung der Europäischen Union und durch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Europäische Union hätten; schließlich engagiert sich die Europäische Union in den entsprechenden Ländern sehr stark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards. Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Menschen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dass diese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939, auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auch auf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mit der Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat, in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist das im Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das sollten wir uns vor Augen halten.
Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustausch in einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen. Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten. Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, was man für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre lang mit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefahren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal geweckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimal nachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hatten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nach Polen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Normales. Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über die Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es immer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mit ukrainischen Omas in einem Warteraum steht und warten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ostgrenze der Europäischen Union aufhört. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine bezieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf die Staaten der EU-Osterweiterung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden, auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai 1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäuschungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgingen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalin damals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung von Demokratie und von Rechten zur freien Entscheidung in den osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai darüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Erweiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen der Zentraleuropäer nach dem Kriegsende ist. (Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbedingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterung auf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wir jetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in der man sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einer Wiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber eigentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterung auch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Daran müssen wir weiter arbeiten.
Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein: Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa ausstrahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil 1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand, eine Perspektive zu einem Beitritt zur Europäischen Union auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine und sehen, was für gewaltige Transformationsherausforderungen dort anstehen. Wir wollen die Transformation nicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihandelszone, sondern auch eine politische Transformation, die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlicher macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Transformationsherausforderung nur mit einem ähnlichen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichen werden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europawahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeitpunkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört, wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagen gezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehen würde; das dürfen wir nicht vergessen. Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch der deutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeit in der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu verstehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heute für uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun. Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir haben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben, dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten, bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzuweisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Aufgabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in der gesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu gehen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in dem Bemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wir haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt in der Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhalten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem alten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigen Jahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Krise und der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Erweiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, die auf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur den kleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern erklärt. Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transformationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dauernd besser gemacht werden. Es muss immer dazugelernt werden, aber nichts kann das schmälern, was erreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historische Gerechtigkeit und nicht Provokation gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir in unserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als Soft Power – als Soft Power, nicht als Hard Power oder als Militär –, dann werden wir das nur schaffen, wenn wir beachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentlichen Grundlagen für die Attraktivität der Europäischen Union ist. Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union leben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keiner anderen Europäischen Union leben als in der, die weiterhin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu reden und an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nach Goethe, Faust II , vielleicht so formulieren: Europa ist glücklich, solang es strebt. – Also sollten wir uns noch etwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell aufhören. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)