von Omid Nouripour und Manuel Sarrazin (in gekürzter Version erschienen am 1.05.2014 auf ZEIT ONLINE)
Vor genau zehn Jahren, am 1. Mai 2004, feierten wir die Osterweiterung der Europäischen Union. Damit schloss die EU eine erfolgreiche Phase der Stabilisierung und Transformation in ihrer Nachbarschaft ab. Aus heruntergewirtschafteten und von Willkürjustiz und politischer Verfolgung gekennzeichneten politischen Systemen wurden funktionierende Marktwirtschaften und pluralistische parlamentarische Demokratien. Als Folge der Mitgliedschaft wurden in den Beitrittsländern Umwelt und Sozialstandards erhöht, Löhne und Gehälter stiegen, und vielfach entwickelte sich eine starke Zivilgesellschaft.
In den zehn neuen Mitgliedsländern, von den sieben früher dem Warschauer Pakt angehörten und drei sogar ehemalige Sowjetrepubliken waren, sowie in Bulgarien, Rumänien und Kroatien, die später dazukamen, können die Bürger heute die europäischen Grundrechte einklagen. Die EU hat – auch durch enorme Finanzmittel – erstaunliche Kräfte der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung freigesetzt.
Andere Länder haben die Erfolge der EU-Erweiterung sehr genau verfolgt. Auch und gerade Menschen in der Ukraine, die nicht nur an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzt, sondern in deren Westen sich viele Menschen noch an die Zeit als Teil Österreich-Ungarns als „goldene Zeit“ erinnern. Nur vor diesem Hintergrund ist die Intensität der Proteste auf dem Maidan zu verstehen, als der damalige Präsident Viktor Janukowitsch sich im Herbst weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.
Heute zeigt sich, dass der Verzicht auf die ausdrückliche Aufnahme einer Beitrittsperspektive für die Ukraine ein Fehler war. Das Konzept der östlichen Partnerschaft war nicht mehr als ein Formelkompromiss zwischen westeuropäischen und zentraleuropäischen Staaten: Es sollte ausdrücklich keine Prämisse pro oder contra Beitritt beinhalten.
Der nachfolgende Absatz ist in der Version des Texts auf ZEIT ONLINE nicht enthalten:
2003/04 legte die EU die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) auf. Schon damals umstritten, wählte die Union einen bilateralen Ansatz der Zusammenarbeit. Mit jedem Nachbarn sollte eine eigene bilaterale Vereinbarung auf Basis der jeweils individuellen Fortschritte erreicht werden. Russland wollte nicht wie die anderen Nachbarn behandelt werden. So wurden zwischen der EU und Russland 4 Säulen der Zusammenarbeit statt einer Beteiligung Russlands an der ENP vereinbart, die in den folgenden Jahren aufgrund der mangelnden Bereitschaft Moskaus bei Grund- und Menschenrechte Fortschritte zu machen, im Sande verliefen. Waren die angestrebten ENP-Nachbarschaftsvereinbarungen in den ersten Strategie-Entwürfen der Kommission noch als Ersatz zu einem möglichen künftigen Beitritt gedacht, so korrigierte die EU vor dem Start der Nachbarschaftspolitik diesen Ansatz. Es war allen Beteiligten von vornherein klar, dass eine Nachbarschaftspolitik ohne die Möglichkeit einer Beitrittsperspektive die pro-europäischen Zivilgesellschaften in den Nachbarstaaten schwächen und die Staaten anstatt auf einen Reformweg in Richtung von Demokratie und Marktwirtschaft, in die Armee Moskaus treiben würde. Letztendlich wurde die Nachbarschaftspolitik explizit mit der Prämisse gestartet weder positiv noch negativ eine Aussage über mögliche künftige Beitrittsperspektiven der Nachbarschaft zu beinhalten. Bei der Gründung des Nachfolgekonzepts für die Region östlich der EU – der östlichen Partnerschaft (ÖP) – wurde dieser Formelkompromiss zwischen vor allem westeuropäischen und zentraleuropäischen Staaten fortgeschrieben. Auch die östliche Partnerschaft sollte keine Prämisse pro oder contra Beitritt sein.
Das verstärkte das Misstrauen in Moskau über die tatsächlichen Absichten der EU. Putin und sein Umfeld haben die soft power der EU in ihrer Nachbarschaft so lange unterschätzt, wie ihnen genehme Politiker über die Ukraine und Weißrussland herrschten und der Kreml diese notfalls durch Erpressung und Gewalt austauschen konnte.
Die EU verpasste so auch die Chance, den proeuropäischen Kräften in der Ukraine und den anderen Staaten des Nachbarschaftsprogramms ein Mittel in die Hand zu geben, auf eine stärkere Demokratisierung ihrer Länder mit dem Argument zu drängen, dass nur so das Ziel eines künftigen EU-Beitritts zu erreichen sei. Stattdessen erweckte die EU immer wieder den Eindruck, die Staaten der östlichen Nachbarschaft zwar wirtschaftlich an sich binden zu wollen, aber bei Demokratie, Wohlfahrt und Freiheitsrechten lieber Abstriche zu machen, als sich neue politisch kostenträchtige Beitrittsdebatten an den heimischen Stammtischen einzuhandeln.
Trotz dieses eigentlichen Misserfolgs des Partnerschaftsprogramms, der sich gerade an den unzureichenden Reformen in der Ukraine unter Janukowitsch deutlich zeigte, bewiesen die letzten Monate eine erstaunliche Attraktivität des Modells EU. Die positiven Ergebnisse der Erweiterungspolitik sind das Vorbild, an dem sich viele Menschen in dem Land orientieren.
Im Vergleich dazu ist Russland für sie ein ausgesprochen unattraktives Alternativmodell. Im Gegensatz zu den Hoffnungen des Westens entwickelte sich das Land ökonomisch und politisch negativ. Es zeigt sich immer mehr, dass Putins System im Wesentlichen auf der Übernutzung der natürlichen Ressourcen zugunsten einiger und auf dem Aufbau autokratischer Strukturen basiert. Verband sich dies zunächst noch mit einem – der Ölpreisentwicklung entsprechenden – wirtschaftlichen Aufschwung, so verlor das Land in den letzten Jahren auch seine wirtschaftliche Dynamik.
Das angeblich so starke Russland hat damit seine Anziehungskraft verloren, seine Nachbarn freiwillig in den eigenen Machtbereich zu locken. Zunehmend versuchte Putin daher, sie mit Gewalt unter politische Kontrolle des Kreml zu bringen. Moskau schreckte weder vor blutigen Kriegen und dem Schüren asymmetrischer Konflikte im Kaukasus zurück noch vor der Ausnutzung wirtschaftlicher Abhängigkeiten im Fall Weißrusslands und der Ukraine, vor allem beim Gas.
Wer vor diesem Hintergrund meint, die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine in einem außenpolitischen big deal gegen eine Stabilisierung der Ukraine nach russischem Gusto tauschen zu können, beginge einen schweren europapolitischen Fehler. Die EU würde sich ihres erfolgreichsten Instruments für politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel in der Ukraine begeben und im Gegenzug keine dauerhafte Stabilisierung des Landes erreichen.
Schon die Demonstrationen auf dem Maidan haben gezeigt, wie schnell sich aus dem Wunsch der Annäherung an Europa die Forderung entwickelte, den eigenen dysfunktionalen und korrumpierten Staat zu reformieren. Nur mit der Beitrittsperspektive kann Europa eine wertegebundene Transformation des Landes anregen.
Die EU ist heute in einer ähnlichen Lage wie zu Beginn der neunziger Jahre. Auf dem Erweiterungsgipfel 1993 in Kopenhagen gab sie den zentraleuropäischen Beitrittsstaaten ein klares Beitrittsangebot – im Gegenzug für Reformen nach den sogenannten Kopenhagener Kriterien. Sie setzten die erfolgreichen Transformationen in Gang. An diesen mutigen Schritt sollte sich die EU heute erinnern. Die mindestens ebenso große Aufgabe eines grundlegenden Umbaus in der Ukraine wird mit weniger Mut und Entschlossenheit nicht zu erreichen sein.
Die EU muss deswegen jetzt auf die Ukraine zugehen und mit allen zivilen Mitteln Angebote zur Zusammenarbeit und Stabilisierung des Landes machen. Dazu gehört, es den Menschen in der Ukraine frei
zustellen, in freien und demokratischen Wahlen über eine europäische oder eine andere Perspektive zu entscheiden. Über ihre Köpfe hinweg in Verhandlungen mit Russland dem Land seine künftige Ausrichtung oder seine innenpolitische Ordnung vorschreiben zu wollen, stellt die gesamte Werteorientierung europäischer Außen- und Erweiterungspolitik infrage. Die EU würde sich damit zugleich der Putinschen Politik ausliefern, die den Werten europäischer Außenpolitik diametral widerspricht.