Die Besetzung der Krim durch Russland ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes. Die Nachrichtenlage ändert sich im Minutentakt, unterschiedlichste Szenarien sind denkbar und wahrscheinlich, aber nur ein Szenario ist gewünscht: Die Wiederherstellung des Status quo ante auf der Krim und der territorialen Integrität der Ukraine. Dem Westen muss klar sein, dass sein Verhalten in jedem Fall entscheidend für die Zukunft der Ukraine und der Region ist.
von Omid Nouripour und Manuel Sarrazin (in gekürzter Version am 10.03.2014 in der Frankfurter Rundschau erschienen)
Dieser Tage ist viel vom russischen Selbstverständnis zu lesen. Russland sehe 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seine selbst ernannte Einflusssphäre in der unmittelbaren Nachbarschaft gefährdet. Unbenommen der Frage, ob „Einflusssphären“ wichtiger sein dürfen als nationale Souveränitäten der „Bruderstaaten“: Die Ängste Russlands ernst zu nehmen, ist sicher richtig. Sie rechtfertigen aber in keiner Weise die drohende russische Annexion der Krim.
Russland hat mit seinem Vorgehen massiv gegen das Völkerrecht verstoßen. Und darauf müssen die EU und ihre Partner wie die USA und die Türkei geschlossen reagieren. Wenn Russland sich nicht von der Krim zurückzieht, ist die Verschärfung der bisherigen Situation unabwendbar. Zwei Ziele bleiben dabei vorrangig, die Deeskalation und die Wiederherstellung des Status quo ante auf der Krim.
Offenkundig ist, dass ein politisches Tauwetter in der Ukraine für Putin und das in Russland etablierte System von Staat und Oligarchie gefährlich ist und der Kreml deswegen ein Interesse an einer Destabilisierung und Delegitimierung der neuen Führung in Kiew hat. Das gilt insbesondere für die gefährliche Vorbildwirkung einer umfassenden Aufklärung der Machenschaften des Janukowitsch-Regimes in Sachen Korruption und staatlicher Gewalt.
Nicht umsonst negiert der Kreml die politischen Hintergründe des Machtwechsels in Kiew vehement: Janukowitsch hatte sich in der entscheidenden Frage des Partnerschaftsabkommen mit der EU gegen den politischen Grundkonsens in der Ukraine gestellt und nach jahrelangen Verhandlungen dieses für eine Annäherung an die eurasische Zollunion aufgegeben. Damit verlor sein Herrschaftssystem endgültig die Grundlage, die er schon zuvor durch ein Ausschalten der bisherigen Balance unter den ukrainischen Oligarchen zu Gunsten seiner privaten Bereicherung und durch eine als aggressiv empfundene pro-russische Sprach- und Kulturpolitik geschwächt hatte. Auf die ersten Proteste antworte das Regime bereits im Herbst mit Gewalt und politischen Morden, was das Vertrauen der Menschen in den Staat erschütterte.
Völlig unabhängig von diesen Betrachtungen der ukrainischen Innenpolitik handelt nun Putin. Er knüpft dabei an Motive und Doktrinen der einstigen russischen Großmacht an und kämpft mit brutalen Mitteln um den Erhalt des Bilds Russlands als Vormacht in der Region. Um die eigene Dominanz in der Region zu legitimieren, nutzt er das Bild Russlands als „großen Bruder“ ohne dessen harte, schützende Hand, sich die „slawischen Brüdervölker“ gegen den Westen (respektive „die Faschisten“) nicht behaupten könnten. Das ist rückwärtsgewandt und völlig aus der Zeit gefallen. Putins Ukraine-Politik ist dabei ein Spiegelbild seiner Russland-Politik: Die Modernisierung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft, auf die viele beim Amtsantritt Putins hofften, hat sich in den vergangenen 15 Jahren außer in einzelnen Leuchtturmprojekten nicht eingestellt. So gelingt es Moskau seit Jahren nicht seiner Nachbarschaft außerhalb des Rohstoffgeschäfts eine attraktive pro-russische Entwicklungsperspektive anzubieten. Diese Schwäche des Kreml geht einher mit einer repressiver werdenden Innenpolitik, die kaum noch Kritik an der staatlichen Führung zulässt und sich den Realitäten im Land verweigert.
Zugleich ist die Krise in der Ukraine und das aggressive Vorgehen Russlands auch Ausdruck einer fehlgeschlagenen Russlandpolitik sowohl der Europäischen Union als auch der NATO. Russland schert sich zumindest vordergründig kaum um die unmittelbaren Konsequenzen seines Handelns. Der NATO-Russland-Rat funktioniert nicht, Russland fühlte sich in der Vergangenheit bei Verhandlungen häufig kaum ernst genommen. bei der Westintegration der Ukraine, gaben all jenen in Moskau Nahrung, die der NATO noch nie getraut haben und den Staaten Zentraleuropas keine eigene Entscheidung über ihre Zukunft zubilligen wollen. Der Blick Letzterer auf die Geschichte wurde von den Stimmen aus dem Westen verstärkt, die gesagt haben, die Ukraine dürfe sich nicht für den Westen oder Osten entscheiden. Wenn nun aber die Ukraine eigenständig zur Entscheidung kommen sollte, dass für sie nur eine Anbindung an den Westen dauerhaft Stabilität und Sicherheit bringen kann, dann darf der Westen ihr das Recht zu einer solchen Entscheidung nicht verwehren.
Russland hat es in den vergangenen Jahren meisterlich verstanden, europäische Außenpolitik auseinanderzudividieren und gemeinsame Linie zu verhindern. Heute wirkt die Europäische Union überrumpelt, sie ist schockiert. Die USA konzentrieren sich unter Obama auf die Innenpolitik und haben sich in den vergangenen Jahren international auf einige Regionen konzentriert.
Diese Fehler des Westens legitimieren das Vorgehen Putins keineswegs, aber sie sind Teil der aktuellen Lage, auf die die Antwort nur lauten kann, die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen.
Denn ein kurzer Blick auf das Szenario einer Ukraine ohne die Krim zeigt, welche fatalen Konsequenzen daraus erwachsen würden: Bleibt der Bruch des Völkerrechts ungeahndet, wäre das ein verheerendes Signal für alle weiteren schwelenden Konflikte und Blaupause für autokratische Regime. Beispielsweise kann man die Ausmaße eines noch repressiveren Agierens Chinas in Tibet oder in der mehrheitlich uigurischen Region Xinjiang aus Angst vor einer Abspaltung nur erahnen. Zugleich müssten andere Länder, in denen sich Russland als Schutzmacht von Teilen der Bevölkerung geriert, wie zum Beispiel Moldawien, ebenfalls die Putin-Doktrin und damit um ihre Integrität fürchten.
Auf der Krim selbst wäre eine Unterdrückung der zur Ukraine haltenden Krim-Tataren nicht ausgeschlossen, mit absehbaren (Über-?) Reaktionen der Regierung Erdogan, die sich bereits zur Schutzmacht der türkisch-stämmigen Minderheit auf der Krim erklärt hat. Zudem wäre die Annexion der Krim durch Russland harter Schnitt für die EU, der viele ost-europäischen Staaten auch aus Angst vor Moskau beigetreten sind. Und die nun sehen müssen, dass die EU gegen Putin machtlos ist.
Europa muss nun seine Zusammenarbeit mit der Ukraine massiv verstärken. Mit der Wiederaufnahme des Partnerschaftsabkommens, Kreditunterstützung, Gaslieferung, wirtschaftlicher Aufbauhilfe und intensiver Zusammenarbeit bei der Reform von Verwaltung, Staat und Sicherheitskräften. Aber auch mit Hilfe bei der Aufarbeitung des Janukowitsch-Regimes. Und Russland gegenüber gibt es nur zwei Optionen, die nicht gangbar sind: Militärisches Vorgehen und Nichtstun. Zwischen diesen beiden Polen müssen alle verfügbaren Instrumente bespielt werden.
Kiew und der Westen müssen der russischen Seite ein Modell anbieten, das Putin erlaubt mit erhobenem Haupte aus der Auseinandersetzung zu gehen. So könnte für einen Abzug der russischen Truppen in der neuen ukrainischen Verfassung ein weitgehenden exterritorialen Status und Zugangsrechte für die russische Marine in Sewastopol vorgesehen werden. Vorbild könnten hier die Sonderregeln für Gr
oßbritannien auf Zypern sein. Die Übernahme der britischen Sonderregeln in die EU-Verträge mit dem Zypern-Beitritt 2004 zeigt, dass NATO und EU dieses Szenario so ausgestalten könnten, dass es künftige Bündnisoptionen der Ukraine offenlässt. Die Ukraine könnte darüber hinaus mit der Ankündigung von vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst oder Winter und einer regional ausgewogenen Übergangsregierung ein Signal an die russischsprachigen Ukrainer senden. Der erste Schritt auf einem solchen Weg muss die Absage des von russischer Seite lancierten Unabhängigkeitsreferendums am kommenden Sonntag auf der Krim sein.
Dafür müssen die Drähte für einen Dialog mit Moskau erhalten bleiben. Allerdings hat der Dialog bisher nichts bewirkt. Deshalb dürfen die Druckpunkte auf der russischen Seite nicht vernachlässigt werden. Die Rechnung für Putin müsste dabei wohl höher ausfallen, als er erwartet – allerdings nicht ohne negative Effekte auf die EU. Der erdrutschartige Verlust an der Moskauer Börse nach Ankündigung von Sanktionen durch die EU war ein Vorgeschmack darauf, dass gezielte und abgestimmte (am Ende auch Wirtschafts-) Sanktionen sehr wohl ihre Wirkung nicht verfehlen würden. Auch eine Absage des G8-Gipfels oder gar ein Ausschluss aus der G8 würde Putin treffen. Schließlich lebt Putin innenpolitisch auch von der Kraft der Bilder, die ihm als Gleichen unter den Weltmächtigen zeigen.
Sollte Putin die Krim am Ende dennoch annektieren, muss die Völkergemeinschaft erst recht reagieren. Will der Westen verhindern, dass dieses Szenario anderswo in der Ukraine oder in der Region vom Kreml oder anderen interessierten Kräften zur Destabilisierung oder für Separatismus wiederholt wird, müsste er mit Sicherheitszusagen für die Ukraine und Sanktionen das Vorgehen des Kreml ächten. Die größte Gefahr dieses Szenarios ist seine Vorbildwirkung, die – keineswegs nur von Putin oder anderen im Kreml gesteuert – überall in Zentraleuropa funktionieren kann. Deswegen würde der Westen mit Sicherheitszusagen für die Ukraine und so umfassenden Sanktionen das Vorgehen des Kreml ächten, dass eine Wiederholung ausgeschlossen ist. In diesem Szenario wäre der Westen auch gezwungen seine Energiezusammenarbeit mit Russland grundsätzlich zu überdenken. Das bedeutet einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien sowie alternative Nachschub-Wege wie die Nabucco-Pipeline durch die Türkei. Europa dürfte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass die eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor der Stabilisierung der Ukraine haben. Last but not least müsste der Westen auch in diesem Szenario klarstellen, dass ein „frozen conflict“ auf der Krim künftige Bündnisoptionen der Ukraine nicht beschädigen oder blockieren wird.
Fast alle Mittel müssen nun ergriffen werden, um das Entstehen eines neuen „Kalten Kriegs“ zwischen Russland und dem Westen zu verhindern. Alle Mittel, bis auf zwei: Weder eine militärische Optionen steht zur Debatte noch die Aufgabe der territorialen Integrität der Ukraine.