von Manuel Sarrazin und Michael Scharfschwerdt, 29.11.2013
Die Europawahl steht vor der Tür. Es ist zurecht kritisiert worden, dass Europa in der Bundestagswahlkampagne der Grünen keine wichtige Rolle gespielt hat. Bei der Analyse der eigenen Fehler wurde aber ein Punkt bisher nicht angesprochen, der für einen erfolgreichen Europawahlkampf sehr wichtig ist. Die Grünen haben der falschen Beschreibung der Krise in der Euro-Zone durch Angela Merkel in den letzten Jahren eine ebenso falsche Beschreibung der Rolle Deutschlands entgegengesetzt. Das Bild eines „Spardiktats“ durch Merkel oder Deutschland erweist sich dabei in der Realität als undifferenziert, greift die Kanzlerin selber keineswegs erfolgreich an und konstruiert eine Perzeption der Euro-Rettung, die ihrerseits dem Projekt europäische Integration schaden könnte.
Seit vielen Jahren kritisieren wir die Bundeskanzlerin zurecht für eine entmündigende Politik, die sich unter dem Topos eines „alternativlos“ aus der Verantwortung stiehlt, europapolitische Maßnahmen in Deutschland mit einem wertegeleiteten Europabild zu begründen. Gleichzeitig hat Angela Merkel mit der von ihr ausgerufenen intergouvermentalen Unionsmethode dem europäischen Interessensausgleich, der Legitimität und demokratischen Transparenz der Europäischen Union geschadet. Außerdem ist offenkundig: Angela Merkel hat in der Krise schwerwiegende Fehler gemacht, die manchmal den Euro fast hätten auseinanderbrechen lassen. Und bis heute ist die deutsche Bundeskanzlerin nicht bereit für unpopuläre, aber notwendige Reformen in der EU und Deutschland ein politisches Risiko einzugehen und diese ihrer eigenen Anhängerschaft durchzusetzen. Das ist das eigentliche Versagen von Angela Merkel, denn somit fehlen die Stimme und das besondere Gewicht Deutschlands auf europäischer Ebene.
Im Gegensatz zu anderen glauben wir jedoch auch, dass eine unpräzise Kritik an der Bundeskanzlerin der Europa-Debatte in Deutschland genauso schadet, wie fehlender Mut und Vision der Bundeskanzlerin. Wir Grüne müssen uns in keiner Weise verstecken, denn wir haben wie keine zweite Partei in den letzten Jahren über die Zukunft der EU diskutiert und grüne Lösungswege entwickelt. Aber gerade deswegen sollten wir unsere Kritik hart, aber sachlich präziser als bisher darlegen.
Die Krise in der Euro-Zone ist eine der komplexesten politischen Sachverhalte der letzten Jahrzehnte. Gleichzeitig sehen wir in der politischen Debatte in Deutschland, dass immer weniger versucht wird, diese Komplexität mit all ihren Widersprüchen und Absurditäten adäquat in der Öffentlichkeit abzubilden. Es ist einer der größten Fehler der deutschen Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft die Euro-Rettung immer wieder mit fast schon stupide simplen Bilden und Erklärmustern den Menschen nahebringen zu wollen.
Diejenige, die angefangen hat, Deutschland eine Art selektiver Wahrnehmung über die Lage der Europäischen Union und der Krise anzudienen, war Angela Merkel. Von Gipfel zu Gipfel fielen Merkels -zu sogenannten roten Linien erklärten- politische Positionen, bis endlich die EZB mit ihrer Ankündigung, unter engen währungspolitischen Vorgaben, Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die Rolle des wichtigsten Akteurs in der Euro-Rettung übernahm. Niemand anderes dürfte insgeheim so glücklich darüber gewesen sein wie Angela Merkel, denn ein anderer Akteur übernahm jene Verantwortung und ging in das politische Risiko, das Merkel selbst bis heute nicht eingehen will. Ihr Weg war und ist „Pakte“ zu schließen oder mit inszenierten Gipfeltreffen zu bestimmten Themen politisches Handeln vorzutäuschen. Große materielle Wirkung hatte bisher keiner dieser Pakte, auch nicht der von manchem als ultimatives Instrument des Spardiktats gesehene Fiskalvertrag. Aber diese Pakte bildeten die Erzählung für die deutsche Presse immer wieder über neue Pläne und Pakte zu berichten, die „die Anderen“ zum Eisernen Sparen bringen würden und lieferten pünktlich zu jedem zweiten Gipfel eine scheinbare Auseinandersetzung zwischen einem sparorientierten Deutschland und einem ausgabelüsternem Frankreich bzw. Südeuropa. Die Selektion dieser Erzählung als Gesamterklärung der deutschen Europapolitik verdrängte die Wahrnehmung der Kanzlerin als Regierungschefin ohne Linie in der Europapolitik, die ihr ihre Flexibilität in den Verhandlungen um die Rettungsschirme eingebracht hatte und gleichzeitig eine politische Linie suggerierte. Ihr hat diese Erzählung sehr genutzt.
Dass auch die Grünen letztlich diese Erzählung durch die Art und Zuspitzung ihrer Kritik an Merkel, wenn auch in der Negation derselben, selbst erzählt haben, war unklug. Merkels „Pakteritis“ – in der alle Vorschläge so lange weich gewaschen werden bis fast jeder mitmachen kann – anstatt zum Papiertiger zur ökonomischen Pest des Kontinents zu erklären, war falsch. Dass für alle spezifischen Sparmaßnahmen in Ländern unter dem Euro-Rettungsschirm letztendlich immer eine persönliche Verantwortung der Kanzlerin konstruiert wurde, war falsch. Und dass so immer mehr das Bild eines „Merkelschen und deutschen Spardiktats“ über Europa befeuert wurde, hat am Ende in Deutschland weder der Kanzlerin noch in Europa der Durchsetzbarkeit ihrer Rettungspolitik geschadet, sondern genutzt. Dabei gibt es viel zu kritisieren an der Art und Weise von Merkels Euro-Rettungspolitik: Dass es zweieinhalb Jahre lang keine klare Haltung seitens der Bundeskanzlerin gab, Griechenland im Euro zu halten, weil es für den europäischen Zusammenhalt elementar ist; dass die Kanzlerin selber das Bild auf Deutschland im Süden rapide verschlechtert hat, indem sie Unwahrheiten über Mentalitäten und Rentenansprüche dort im deutschen Wahlkampf kundtat; dass sie Jahre brauchte bis sie zum ersten Mal symbolträchtig nach Athen reiste; dass die Kreditklemme für die kleinen und mittleren Unternehmen in Spanien und Griechenland erst jetzt bilateral angegangen wird und vor allem, dass sie den Menschen in Deutschland kaum einmal versucht hat, die Perspektive der europäischen Partner zu erläutern, all das sind ihre persönlichen Versäumnisse von historischem Maßstab. Es gab viele andere Themen und Argumente, die von uns ins Feld geführt wurden: Die Gläubigerbeteiligung bei Bankenrettungen, die Herausforderung der Jugendarbeitslosigkeit, die Bedeutung des Ausstiegs aus den teuren fossilen Energieträgern und vieles mehr. Doch gewichtige Kritik verschwand bald hinter rein ökonomischen Argumenten, die ein angebliches deutsches Spardiktat als das ökonomisch falsche Modell für den Weg aus der Krise beschrieb und doch letztlich genau Merkels Erzählung bestätigte.
Die Mystifizierung eines angeblichen deutschen Spardiktats über Europa und der Hauptverantwortung Angela Merkels für finanz- und haushaltspolitischen Entscheidungen anderer Nationalstaaten sind es aber nicht, die am Ende den Grünen nutzen könnten. Und glaubt denn jemand ernsthaft, dass eine Bundesregierung mit grüner Beteiligung bei der Euro-Rettung nicht auch aufs Geld achten würde? Es muss daher vor allem darum gehen, dass wir die tatsächlichen Hintergründe, Akteure und Aushandlungsprozesse der Maßnahmen der Euro-Rettung wieder stärker ins Blickfeld nehmen, um zu einer wirklichen europäischen Debatte und die Verantwortung der einzelnen Akteure – insbesondere auch der deutschen Regierung – zu kommen, und zwar dort, wo sie auch tatsächlich verantwortlich sind. Denn irgendwas kann ohne Zweifel nicht stimmen, wenn Neonazis in Griechenland gegen das deutsche Diktat agitieren und gleichzeitig von linken Gruppen in Spanien für die Ausgestaltung der dortigen Kürzungen im Bildungssystem die Troika und auch die deutsche Regierung alleine verantwortlich gemacht we
rden. Tatsache ist aber, dass die Troika den spanischen Haushalt oder auch den Bildungsetat zum Beispiel gar nicht sichtet. Und während Angela Merkel von dieser Erzählung als angeblich starke deutsche Spardisziplin durchsetzende Politikerin in Deutschland profitiert, nutzen die konservativen Regierungschefs in ihren Ländern die angebliche Fremdbestimmung auch noch als Ausrede, um nicht selber verantwortlich zu sein. Die größte Gefahr ist aber, dass durch pro-europäische Kräfte ein Bild von Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Union gezeichnet wird, das bei aller berechtigten Kritik an der intransparenten Hinterzimmerpolitik der Regierungen, den Eindruck erweckt, in Europa würde ausschließlich nur ein Akteur, eine Zentrale über die Köpfe aller hinweg entscheiden und so unbewusst das Bild all der Populisten und Nationalisten bestätigt wird, die der Europäischen Einigung schon immer den Ruf eines zentralistischen, gängelnden Superstaats zuschreiben wollten.
Die konkrete Ausgestaltung der Konditionalität der Rettungsmaßnehmen entsteht in komplexen Aushandlungsprozessen zwischen der Troika, aus Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, den Auftraggebern der Troika in der Euro-Gruppe, wo die deutsche Regierung ein gehöriges Wort mitzureden hat und der nationalen Politik. Aber zu glauben, die Durchsetzbarkeit von Maßnahmen, die konkrete Ausgestaltung von Wirtschaftsreformen oder auch die innerstaatliche Verteilung von Lasten beispielsweise bei Einschnitten im öffentlichen Dienst sei kein Thema harter innenpolitischer Auseinandersetzungen, ist falsch. Das Ergebnis wird am Ende zudem parlamentarisch legitimiert. Natürlich schauen die nationalen Regierungen dabei auch auf die Durchsetzbarkeit in den eigenen Reihen. Die Troika bestimmt also nicht absolut, welche Maßnahmen in den Staaten, die Kredithilfen bekommen, durchgeführt werden müssen. Damit sagen wir aber nicht, dass die Arbeit der Troika nicht besser kontrolliert werden sollte. EU-Kommission und Europäische Zentralbank müssen ihr Handeln in der Troika gegenüber dem Europäischen Parlament verantworten.
Klar ist, dass die Staaten dabei natürlich Druck von außen, von den Geldgebern bekommen. Ein gewisser externer Druck wird aber auch notwendig sein, damit die oft mit Einschnitten verbundenen und politisch den Regierenden kurzfristig nicht nutzenden Reformmaßnahmen angegangen werden. Schließlich haben die Entscheidungsträger in allen Staaten – in unterschiedlichem Ausmaß – in den letzten Jahren durch Fehler und Versäumnisse zur Lage des eigenen Landes beigetragen oder diese sogar wie in Griechenland wesentlich verursacht. Druck von außen bei die Stabilität des Euro und des europäischen Binnenmarkts gefährdenden politischen Entscheidungen, wünschen wir uns übrigens auch – z.B. im Rahmen des Europäischen Semesters und der makroökonomischen Überwachung der EU – für Deutschland.
Die deutsche Bundesregierung ist also eine zentrale, aber nicht die einzige Akteurin. Es stimmt andererseits aber auch, dass die Bundesregierung ihre Rolle im Rahmen dieser Akteurskonstellation immer stark darauf beschränkte, kurzfristig möglichst wenig finanzielle Risiken einzugehen und die Lasten fast ausschließlich den betroffenen Staaten aufbürdete, ohne einzugestehen, dass in den Jahren vor der Krise die deutsche Politik deutsche Banken stillschweigend gewähren ließ, als diese immer neue Kredite in die heutigen Krisenländer vergaben, obwohl längst abzusehen war, dass dies mittelfristig zu ernsten Problemen führen würde. Außerdem ist es sicherlich richtig, dass Finanzminister Schäuble und Bundeskanzlerin Merkel im Zweifelsfall egal war, ob in einem Programmstaat die Pensionen beim Militär oder das Gehalt von Lehrerinnen und Krankenhauspersonal gekürzt wird.
Und bei allen Programmstaaten gehört zur Wahrheit dazu: Natürlich haben diese auch ein Ausgabenproblem, das weder allein über Steuererhöhungen gelöst werden könnte, noch sollte. Die Staaten müssen ihre Haushalte strukturell in Ordnung bringen und fast nirgends wird man dabei auch an Einsparungen vorbeikommen. Man hätte diese sicherlich in der Gesamtsumme, der Lastenverteilung und im Detail anders ausgestalten müssen, aber natürlich müssten die Programmstaaten auch mit einer grünen Bundesregierung an ihren öffentlichen Sektor ran. Zumal hier ausgerechnet von uns das Thema Generationengerechtigkeit kaum thematisiert wird: Ist es eigentlich sozial, wenn bestimmte Interessensgruppen im öffentlichen Dienst von Renten- oder Pensionskürzungen ausgenommen werden und das erforderliche Einsparvolumen dann verstärkt über Einsparungen im Bildungsbereich oder Verbrauchssteuern eingebracht wird?
Man kann Deutschland vorwerfen nicht ausreichend im Sinne einer ausgewogeneren oder besseren Gestaltung der Maßnahmen Einfluss genommen zu haben, aber eben nicht, dass es allein an Deutschland liegt bessere Politik für Programmstaaten zu machen. Egal, ob ein sanfterer Anpassungsweg oder eine Schocktherapie gewählt werden, an einem glaubwürdigen Politikwechsel in Bezug auf Probleme der Wettbewerbsfähigkeit und Ausgabenkürzungen in den Staaten wird keine Krisenpolitik vorbeikommen können. Wie auch an der Wahrheit, dass die aufgrund des stabilen Währungsumfelds gewählte Strategie der internen Abwertung natürlich zu Lohnverlusten und Ungerechtigkeit in den Ländern führt. Gerade, wenn man das sagt, kann man umso glaubwürdiger Kritik an der Politik Merkels üben. Ihre immer wieder in der Europapolitik hochgehaltenen Standards gelten nämlich innenpolitisch nicht. Faktisch schönt die Bundesregierung schon länger den deutschen Haushalt und die Überschuldung Deutschlands angesichts der Niedrigzinsphase und des Kapitalzuflusses. Gerade jetzt mit einem Koalitionsvertrag, der das Geld mit der Gießkanne an den ökonomischen Erfordernissen Deutschlands und Europas vorbei ausschüttet ist, eine Doppelmoral und eine riesige haushalts- und finanzpolitische Last.
Deswegen ist natürlich richtig: Die Nachrichten über die Entwicklung bei vielen europäischen Nachbarn geben uns Grund zur Sorge und für viele von uns werfen sie zurecht die Frage des sozialen Gesichts der europäischen Integration auf. Das ist richtig, auch wir wollen mehr soziales Europa. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch dazu, die begrenzten Kompetenzen der Europäischen Union in diesem Bereich genauso mit zu nennen, wie die begrenzten Möglichkeiten, eine komplett andere Ausgestaltung der Sparmaßnahmen in den Programmländern durch- und umsetzen zu können.
Auch um diese Probleme wissend, haben wir Grüne den Rettungsmaßnahmen im Bundestag meist zugestimmt, während wir an anderen Stellen, wie beispielsweise beim Zusammenkürzen des Budgets der Europäischen Union in den Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen harte Ablehnung signalisiert haben. Dennoch haben auch wir Grüne eine recht simple Kritik an der angeblich allein von Merkel durchgesetzten Austeritätspolitik geübt. Vielleicht war das eine Gegenreaktion auf die undefinierte und schwammige Kritik, man könnte ja nicht dauernd mit der Regierung abstimmen. Vielleicht ist es aber auch so, dass hier manche bei uns einen alten ideologischen Kampf wieder aufleben lassen wollten.
Das alleinige Gegenkonzept der Grünen gegen die Austeritätspolitik erschien so schon bald als Investitionsprogramm für Europa. Dabei macht es zudem durchaus Sinn einen Ausbau und eine Umsteuerung des Investitionspotentials in den existenten europäischen Instrumenten, wie dem EU-Haushalt oder der Europäischen Investitionsbank in die regionalen und inhaltlichen Bereiche zu fordern, die das Leid vieler Menschen in der Krise lindern und nachhaltige neue Wachstumsimpulse setzen können. Aber keineswegs sollten wir
Grüne den Eindruck erwecken, als könnten wir Europa wirklich mit einem großangelegten europäischen Konjunkturprogramm überziehen. Dazu fehlen faktisch nicht nur die Mittel, vor allem auch in den großen Geberländern Frankreich, Italien oder Spanien, sondern vielerorts auch die Projekte, für eine klare ökologische Ausrichtung eines solchen Programms. Wer von einem Marshall-Plan für Griechenland spricht, sollte sich auch mit dem Argument auseinandersetzen, dass es gerade dort umso wichtiger ist, die Rahmenbedingungen für Investitionen zu verbessern. Gerade dafür wird aber der oben genannte externe Druck notwendig bleiben. Die Grünen sollten sich deswegen nicht wieder darauf versteifen – außerhalb des in Deutschland unterschätzten Themas des EU-Haushalts – und des eigens von EIB und KFW großangelegten Konjunkturprogrammen zu schwärmen. Die Grünen sollten sich vielmehr trauen, die politischen Fragen der europäischen Integration wie die schwindende Macht des Europäischen Parlaments, den wieder anschwellenden Nationalismus und Rechtspopulismus, die Erosion der europäischen Solidarität zwischen Nord und Süd, Ost und West zu thematisieren. Sie sollten mehr den Kampf gegen konservative Lobbyinteressen in der Agrarpolitik, für eine Finanzregulierung, gegen Rückschritte im Verbraucherschutz und für eine europäische Flüchtlingspolitik, die ihren Namen verdient, aufnehmen.
Vor dem Hintergrund der neuen großen Koalition in Berlin sollten wir Grüne für all das einstehen, wo wir wirklich eine bessere Antwort auf die große anstehende Herausforderung des Schuldenabbaus in Europa haben. Und wir sollten endlich nicht mehr zu feige sein und unsere Vorstellungen eines Altschuldentilgungsfonds und einer mittelfristigen Perspektive auf Eurobonds (oder wie immer gemeinsame Anleihen am Ende auch heißen werden) mit starken supranationalen Haushaltsregeln, nicht nur im Wahlprogramm zu erwähnen, sondern auch auf den Marktplätzen und in den Diskussionen mit dem politischen Gegner dafür offensiv zu werben. Wir sollten aber auch die vielen unthematisierten Fragen aufwerfen, die in der bisherigen Krisendebatte hinten rüber gefallen sind, wie die Generationengerechtigkeit in Europa, wie einen ökologischen Green New Deal, der jetzt gegen die Verschuldung durch fossile Rohstoffimporte in der Zukunft investiert, wie die Transparenz und demokratische Legitimierung der Rettungsmaßnahmen und wie die Bedeutung einer ehrlichen und Verständnis für die jeweilige Lage fördernden Krisendebatte in Deutschland und Europa. In all diesen Feldern ist auch die Große Koalition unter Angela Merkel angreifbar, dort verfügen wir Grüne über Alleinstellungsmerkmale.
Wenn wir in den kommenden Monaten erfolgreicher Kritik an der Europapolitik der Kanzlerin und einer Großen Koalition üben wollen, müssen wir unsere Kritik strategisch präzisieren und stärker zuspitzen. Wir sollten aufhören den Eindruck zu vermitteln, dass wir alles anders machen würden, sondern deutlicher machen, was man wirklich, realistisch und auch in Anbetracht der Gegebenheiten anders machen kann und sollte. Ob man überzeugter Europäer ist, entscheidet sich nicht am Antagonismus zu Merkel, sondern im Gegensatz zu ihrer mangelnden Haltung und Klarheit über die gemeinsame und demokratische Zukunft des Projekts Europa und Euro.
Die grüne Botschaft lautet: Für uns ist Europa kein Managementprojekt, sondern wir stehen zum Weg der europäischen Integration – ohne Wenn und Aber, so wie wir unseren Europawahlkampf auch mit unseren europäischen Schwesterparteien gemeinsam führen. Deutschland braucht vor allem eine grüne Partei, die eine klare wertegeleitete Begründung für weitere Maßnahmen im europäischen Interesse und Integrationsschritte liefert und offensiv für ihre Positionen kämpft und dies nicht über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg tut, sondern im direkten Austausch mit ihnen. Dies gilt umso mehr angesichts der anstehenden Auseinandersetzungen mit einer übergroßen Koalition aus Union und SPD und einer eurokritischen außerparlamentarischen Bewegung.