Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sprechen heute über die Rechtsstaatsinitiative, einen Vorschlag von Außenminister Westerwelle, den wir Grüne ausdrücklich begrüßen. Ich bin froh, dass sich diese Initiative heute auch die Fraktionen von CDU/CSU und FDP zu eigen machen und wir diesen Antrag der Koalition auf dem Tisch liegen haben.
Es ist gut, dass die Koalition mit diesem Antrag offenbar ihrer Einsicht Rechnung trägt, dass es Sache der gesamten EU ist, wenn die europäischen Grundwerte in den einzelnen Mitgliedstaaten gefährdet sind. Ich kann mich sehr gut an Diskussionen erinnern, in denen Sie darauf beharrten, dass sich der Bundestag nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Mitgliedstaaten einmischen dürfe. Diese Argumentation haben wir damals aus gutem Grund kritisiert.
Die EU ist eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten beruht – nicht nur ein einfacher Verbund souveräner Nationalstaaten. Deswegen regeln die europäischen Verträge die Definition der Grundwerte nach Vorbild des Grundgesetzes an prominenter Stelle: in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union! Zu den gemeinsamen Werten gehört zum Beispiel eine funktionsfähige Demokratie, und zur Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie gehört, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funktionieren. Wenn wir Anzeichen dafür haben, dass diese Funktionsfähigkeit in einem Mitgliedstaat bedroht ist, dann ist es richtig und wichtig, darauf zu reagieren. Das gilt natürlich nicht nur für die Demokratie, sondern für alle europäischen Grundwerte.
Wenn wir über die Einhaltung bzw. über Defizite bei den Grundwerten in einzelnen Mitgliedstaaten debattieren – sei es im Bundestag, in einem anderen nationalen Parlament oder im Europäischen Parlament – dann geht es nicht darum, einem Land von außen Regeln aufzudrängen. Es geht um Verpflichtungen, die das Land mit seinem Beitritt zur Europäischen Union und dem damit verbundenen Bekenntnis zu den Werten und zum Vorrang des Europarechts eingegangen ist. In diesen Fragen kann es keinen geschützten Bereich innerer Angelegenheiten geben. Die Einhaltung der europäischen Grundwerte sind innere Angelegenheit der gesamten EU.
Wir begrüßen diese Initiative, weil wir sie inhaltlich teilen. Auch wir halten einen Mechanismus, der zwischen Vertragsverletzungsverfahren und Art. 7 angesiedelt ist, für notwendig. Wir brauchen einen Mechanismus, der eine Gefährdung der europäischen Grundrechte in einem Mitgliedstaat frühzeitig thematisiert. Dabei darf es nicht darum gehen, einzelne Staaten an den Pranger zu stellen. Ziel muss es sein, Fehlentwicklungen in einem frühen Stadium konstruktiv und kooperativ thematisieren und nach gemeinsamen Lösungen suchen zu können. Es ist wichtig, dass ein entsprechender Mechanismus objektiv, soll heißen: nicht diskriminierend, und mit Bedacht von der EU-Kommission angewendet wird.
Es ist gut, dass ein Großteil der Mitgliedstaaten die Initiative von Außenminister Westerwelle befürwortet. Über die ausdrückliche Unterstützung Ungarns freue ich mich besonders. Es ist unerlässlich, dass auch die künftigen Schritte bis hin zu einer möglichen Einigung auf einen Mechanismus von allen Mitgliedstaaten unterstützt werden. Finden wir bei der Konstruktion des Mechanismus keinen Konsens, dann wird es ihm später an der notwendigen Akzeptanz fehlen.
Der Weg zu einem funktionsfähigen, objektiven und akzeptierten Mechanismus wird nicht einfach. Das ist uns allen bewusst. Es ist aber richtig, jetzt detaillierte Vorschläge zu erarbeiten, wie ein solcher aussehen könnte. Wir unterstützen daher die Aufforderung an die Bundesregierung, sich gegenüber der EU-Kommission erneut dafür stark zu machen, ein erstes Diskussionspapier vorzulegen. Wir werden diesem Antrag aus diesem Grund auch zustimmen. Ich möchte aber trotzdem noch kurz auf drei Punkte eingehen, die wir inhaltlich nicht teilen.
Sie sprechen von christlichen Wurzeln und religiösen Traditionen Europas, aus denen die gemeinsamen Grundwerte der EU, die Charta und die EMRK hervorgegangen seien. Sie vergessen dabei die Werte der Aufklärung und des Humanismus genauso wie den Kampf um soziale Rechte der Arbeiterbewegung. Und ich finde, das jüdische Erbe der Werte der EU kann und sollte ebenso ausdrücklich erwähnt werden wie das abendländische Christentum, vom europäischen Islam ganz zu schweigen.
Dann sehen Sie das Vertrauen vieler Menschen in das gemeinsame europäische Projekt „nicht zuletzt durch die Schuldenkrise im Euro-Raum“ schwinden. Auch hier müssen wir ausdrücklich feststellen: Es ist nicht nur die Schuldenkrise, es ist vor allem das Missmanagement der Bundeskanzlerin, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU schwinden lässt.
Schließlich wollen Sie einen Mechanismus, der möglichst ohne Vertragsveränderungen auskommt. Aus meiner Sicht setzen wir uns damit unnötige Hürden. Ich möchte einen guten und wirkungsorientierten Mechanismus. Ich möchte keine Abstriche machen, um einer Vertragsänderung aus dem Weg zu gehen. Ich würde mir wünschen, dass die EU-Kommission, wenn notwendig, zwei Vorschläge macht: einen mit und einen ohne Vertragsänderung. Eine gemeinsame politische Vereinbarung, wie im vorliegenden Antrag vorgeschlagen, ist eine Möglichkeit, die jedoch innerhalb eines europäischen Konvents nach den EP-Wahlen 2014 in die Verträge übernommen werden muss.
Gestatten sie mir abschließend noch einen Hinweis auf ein anderes europäisches Projekt, welches im Zusammenhang mit der Demokratie steht. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski hatte während Polens Ratspräsidentschaft eine Initiative für einen Europäischen Fonds für Demokratie gestartet. Ziel dieses Fonds ist die Förderung von Demokratie in der Europäischen Nachbarschaft und darüber hinaus. Die Bundesregierung hat den Vorschlag selbst unterstützt. Heute müssen wir aber leider feststellen, dass die Bundesregierung nicht bereit ist, dieses aus ihrer Sicht sinnvolle Projekt auch finanziell zu unterstützen.
Sehr geehrter Herr Westerwelle, an dieser Stelle verlieren Sie Ihre Glaubwürdigkeit. Sie reden von Einhaltung der Grundrechte und Förderung der Demokratie, lassen in diesem Fall aber unsere polnischen Partner im Stich. Das sollten Sie ändern, nicht nur Ihrer Glaubwürdigkeit zuliebe, sondern auch im Interesse dieses wichtigen und sinnvollen Projekts des Europäischen Fonds für Demokratie. Bleibt zu hoffen, dass Sie es mit der Rechtsstaatsinitiative ernster meinen.