Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Bundestag stellt fest:
Der Deutsche Bundestag bekräftigt die Zusage der EU-Beitrittsperspektive für alle Staaten des westlichen Balkans durch den EU- Gipfel von Thessaloniki aus dem Jahr 2003. Er ist der Auffassung, dass die multiethnischen Staaten des Westbalkans mit ihren verschiedenen Religionen und einem großen muslimischen Bevölkerungsanteil zur Europäischen Union gehören. Ohne sie bleibt die Europäische Union als historische Errungenschaft unvollendet. Zu begrüßen ist der Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und, die Vorschläge der Europäischen Kommission, Beitrittsverhandlungen mit Montenegro aufzunehmen und Serbien zum Kandidaten zu erklären, wenn Serbien den Dialog mit dem Kosovo wieder aufgenommen hat. Der Bundestag bekennt sich zum demokratischen Prinzip des multiethnischen Staates mit gleichen Rechten für alle Bürgerinnen und Bürger ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Abstammung und Zugehörigkeit. Mögliche Grenzverschiebungen zur Herstellung ethnischer Homogenität laufen dem Prinzip der demokratischen Gesellschaft zuwider. Sie bergen zudem das unüberschaubare Risiko in sich, in einer Kettenreaktion schwere Krisen in den unvollendeten Staaten des Westbalkans hervorzurufen. Der Bundestag bekräftigt, dass es keine Grenzverschiebungen auf dem Westbalkan geben kann.
Der Bundestag sieht die Gefahr, dass bilaterale Konflikte europäisiert werden können und dass dies ein großes Risiko für die Funktionsfähigkeit der EU und für die europäische Sicherheit darstellt. Vorbedingung für den angestrebten EU-Beitritt der aller Staaten des Westbalkans ist, dass mit Abschluss der Verhandlungen alle bilateralen Konflikte gelöst oder mindestens einer Lösung zugeführt sind. Eine völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo durch Serbien ist hierfür ebenso unumgänglich wie ein konstruktives Engagement Serbiens für den Aufbau funktionierender Staatlichkeit in Bosnien und Herzegowina. Entsprechende politische Entscheidungen in Serbien sind deshalb Voraussetzung für einen erfolgreichen Beitrittsprozess in der gesamten Region. Mit der Auslieferung Ratko Mladics und Goran Hadzics an den internationalen Gerichtshof in Den Haag hat Serbien bewiesen, dass es zur Erfüllung der Bedingungen für eine Annäherung an die Europäische Union bereit ist. Auch der Beschluss des serbischen Parlaments, mit dem dieses die serbische Verantwortung für Kriegsverbrechen in den 90er Jahren anerkannte, ist ein Zeichen dafür. Gleichwohl sind der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Zerfall Jugoslawiens und die wirtschaftliche Transformation langwierige Vorgänge, die nach wie vor erhebliche Anstrengungen für die serbische Gesellschaft bedeuten.
Nach dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien hat sich der Europäische Rat auf neue Grundsätze bei der Erweiterung der Europäischen Union geeinigt. Danach bestimmen die Ergebnisse der Reformen das individuelle Tempo des Beitrittsprozesses in einem Land. Ein Beitrittstermin wird erst festgelegt, wenn die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss stehen. Mit dem Beitritt müssen die Kopenhagener Kriterien vollständig erfüllt sein. Die Europäische Kommission überprüft dabei nicht nur die Umsetzung sondern auch die Implementierung der Reformen. Schwierige Fragen, wie die Reform der Verwaltung und Justiz sowie die Bekämpfung der Korruption sollen früh- zeitig behandelt werden. Diese Grundsätze und eine strikte Konditionalität in allen Phasen der Verhandlungen sind Grundlage für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen.
Jedoch birgt die unterschiedliche Dynamik in der Annäherung das Risiko, die bestehenden Spannungen in der Region weiter zu verschärfen. Der Bundestag erachtet es daher für notwendig, dass eine Strategie für den Beitrittsprozess entwickelt wird, die neben der strikten Einhaltung der Kriterien das Ziel von Beitritten der Staaten des Westbalkans verfolgt, die möglichst zeitnah zueinander statt finden. Hierfür ist eine aktive Politik der EU nötig, die die Ungleichzeitigkeiten der Länder bei der Annähe- rung an die EU auffängt und zu kompensieren sucht und regionale Zusammenarbeit und Kooperation fördert. Die EU muss außerdem Konzepte für Übergangsregelungen (Transitional Agreements) entwickeln, die vermeiden, dass durch unterschiedlich schnelle Beitrittsprozesse bestehende Verbindungen und Kooperationen auf dem Balkan zerschnitten werden.
Der Bundestag begreift den guten Zustand der Umwelt als einen wichtigen Bereich, in dem Korruption, wie auch in anderen Bereichen, eine große Rolle spielt. Korruption und Raubbau an der Natur oder Umweltverschmutzung sind oft sehr eng miteinander verbunden. Gerade in den Beitrittsprozessen auf dem Westbalkan muss die EU diesen verwobenen Themenkomplex berücksichtigen. Engagement in Bezug auf Natur und natürlichen Ressourcen ist auch eine Frage der Selbstbehauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung in künftigen EU-Staaten.
Der Bundestag hält es für dringend geboten, dass die Unabhängigkeit des Kosovo durch alle Staaten der EU anerkannt wird. Dies ist die Voraussetzung, um die Blockaden für den Staatsaufbau des Kosovo zu beseitigen und eine Beitrittsperspektive entwickeln zu können. Eine völkerrechtlich eindeutige Haltung der EU zum Kosovo ermöglicht den angestrebten Abschluss eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens und die Abschaffung der Visumspflicht für den Schengen-Raum.
Der Bundestag ist sich der historischen Verantwortung der EU für die Überwindung der unvollendeten Verfasstheit von Bosnien und Herzegowina auf Grundlage des Daytoner Friedensvertrages bewusst. Mit den erheblichen Spannungen innerhalb des multiethnischen Staates ist das Land von herausragen- der Bedeutung für die Stabilität in der gesamten Region. Das Bemühen um eine Reform des bosnischen Staatswesens zur Herstellung funktionierender Staatlichkeit stellt deshalb einen wichtigen Pfei- ler der zu entwickelnden EU-Strategie dar. Die Verabschiedung einer Verfassung nach demokratischen Grundsätzen und im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ist zudem für die weitere Annäherung des Landes an die EU unerlässlich.
Der Bundestag mahnt Griechenland und Mazedonien nachdrücklich, in ihrem Namensstreit eine Einigung zu finden und so die langjährige Blockade der europäischen Integration Mazedoniens aufzulösen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
- auf die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten des Westbalkan in ihren bestehenden Grenzen durch alle EU-Mitgliedstaaten zu drängen;
- nach Anerkennung des Kosovo durch alle EU-Mitgliedsstaaten sich für einen raschen Abschluss eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens und die Abschaffung der Visumspflicht für das Kosovo einzusetzen;
- sich im Rahmen der EU für eine Westbalkanstrategie einzusetzen, die im Beitrittsprozess kein Land der Region zurück lässt und sich deshalb für die verspäteten Länder und die Lösungen ihrer politischen Blockaden in besonderem Maße engagiert;
- sich für die Unveränderlichkeit der gegenwärtigen staatlichen Grenzen als Grundlage der Westbalkanstrategie der EU einzusetzen;
- auf die vollständige Erfüllung der Kopenhagener Kriterien im Beitrittsprozess der Staaten des Westbalkans zu drängen;
- sich für eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Minderheiten und insbesondere der Roma einzusetzen und auf die Ausarbeitung nationale Strategien zur Integration der Roma zu drängen;
- sich um eine gute und offene Zusammenarbeit aller Staaten des Westbalkan mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien z
u bemühen; - nachdrücklich an der Lösung zwischenstaatlicher Konflikte und gutnachbarschaftliche Beziehungen als Beitrittskriterium der EU festzuhalten, einschließlich der völkerrechtlichen Anerkennung aller anderen Staaten der Region in ihren bestehenden Grenzen sowie der Unterlassung jeglicher Handlungen, die den Aufbau funktionierender Staatsstrukturen in den Nachbarländern behindert, sowie einer aktiven regionalen Kooperation in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Verkehr, Handel, Energie und Umwelt;
- den Ausschluss von Blockademöglichkeiten des EU-Beitritts verspäteter Staaten des Westbalkans durch bereits beigetretene Staaten durchzusetzen;
Berlin, den 21. November 2011
Renate Künast, JürgenTrittin und Fraktion
Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Uwe Kekeritz, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN