Diskussionsanstöße zum ‚state of the European Union’ und zum Vereinigten Europa. Ein Gespenst geht um in Europa. Ein Gespenst in zweierlei Gewand: Die Schuldenkrise des Euro und die Vereinigten Staaten von Europa. Ein Text von Manuel Sarrazin, Jan Philipp Albrecht und Anja Schillhaneck.
Die Ursachen und Gründe für die Krise und die sich daraus ergebenden Folgen sind zahlreich und schwer zu fassen. Es geht uns nicht um eine Analyse des ’Warum’. Vielmehr müssen wir uns endlich bewusst werden, über das ’Was’. Über das ’was’ des derzeitigen Stands des europäischen Integrationsprozesses. Nur mit einem klaren Verständnis davon, auf welcher Stufe der historischen Entwicklung des Vereinigten Europas wir mit dem Vertrag von Lissabon und den Auswirkungen der Krise stehen, können wir endlich Klarheit in das ’Wohin’ und das ‚Wie weiter’ bringen.
Unabhängig von der Frage des ’Warum’? Alles ist anders als vor dem 1.12.2009, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon. Und doch wird nichts so bleiben wie es ist. Die gewaltige praktische, tatsächliche und zum geistigen Nachvollziehen herausfordernde Vertiefung der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon ist innerhalb weniger Wochen von der Krise überholt worden, die einen weiteren, größeren und unumkehrbaren Integrationsschritt bedeuten wird. So trifft der Beginn eines weiteren großen Integrationsschritts auf ein Bewusstsein der politischen Eliten und der Bevölkerung, das sich noch in der Welt des alten Vertrags- und Krisenstands – z.T. auch des ‚Prä-Erweiterungsstands’ – glaubt. Ihr Bewusstsein ist nicht durch das ‚Sein’ im Vertrag von Lissabon, im Mehrheitsentscheidungsstaatenverbund geprägt, sondern vielmehr glauben sie sich in einem ‚Sein’, das nicht mehr existiert.
Dies löst zu allererst Angst aus: Angst vor der Krise, Angst vor der Veränderung, die schon längst eingetreten ist. Angst vor Europa. Also vor ‚den Anderen’ in Europa, dem ’Süden’, den ’Nehmern“. Und eben Angst vor mehr Europa, vor einer weiteren Integration der Europäischen Union. Aber nur eine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Sein kann zu dem Bewusstsein führen, das Mut macht den Gang der Integration weiter zu gehen.
In der Geschichte haben oft kleine Veränderungen gewaltige Umwälzungen zur Folge gehabt. Technische Neuerungen, politische Neuerungen oder Neuerungen in der Finanzwelt. Die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts z.B. ging von einigen Schlüsselerfindungen und -ver- änderungen aus. Die europäische Schuldenkrise, die Einrichtung des Euro-Rettungsschirm, die offenkundig notwendigen Folgen in der Koordinierung und Harmonisierung der Steuer-, Wirtschaftsund Haushaltspolitik werden so eine gewaltige Umwälzung auslösen. Diese gewaltige Umwälzung wird letztlich eine ungeahnt tiefere europäische Integration zur Folge haben, ganz egal, ob wir diese als solche wahrnehmen und nachvollziehen und ob wir diese als Europäische Union, Vereinigte Staaten von Europa oder Vereinigtes Europa bezeichnen.
Wie wird diese neue große Umwälzung aussehen? Die große Umwälzung wird sein , dass Europa sich ähnlicher wird. Dass die Europäerinnen und Europäer sich ähnlicher werden. Sie wird dafür sorgen, dass unsere Art zu wirtschaften, unsere Kultur und Psychologie von Leben und Arbeiten sich ähnlicher werden wird. Auf sie folgt eine Angleichung der Wirtschaftskultur der „alten europäischen Nationalökonomien“. Das müssen wir nicht gut oder schlecht finden. Das ist die neue Wahrheit, in der wir grüne Politik gestalten müssen. Eine Grüne Politik für einen Green New Deal, der das Klima rettet und Europa weiter Wohlstand erhalten lässt. Eine Grüne Politik, die Europa stark macht, um für die europäischen Werte in der Welt zu streiten. Und eine Grüne Politik, die kluges Sparen erfindet, so dass der Staat weiterhin stark genug ist, um sich um das Gemeinwesen und alle die, die Hilfe brauchen, zu kümmern.
Ist das das Ende der Idee des Europas der Vielfalt? Nein! Die EU ist weiterhin dazu da, kulturelle Vielfalt zu bewahren und zu fördern. Aber den Narrativ, die Europäer bräuchten die EU um ihre Unterschiede zu überwinden, müssen wir aufgeben. Natürlich sind sich heute die Menschen in der EU ähnlicher als vor 50 Jahren. Egal, ob wegen der europäischen Integration, des Binnenmarkts oder der Globalisierung. Ein Jugendlicher in Portugal kann sich schnell und leicht in das Leben eines Jugendlichen in Polen hineinversetzen. Ob bei Lebensträumen, Produkten und Marken oder dem Begegnen als Fans von Stars oder Sportvereinen. Die Europäer brauchen die EU heute eher, um ihre kulturelle Vielfalt zu erhalten, denn als Friedensprojekt um Unterschiede zu überwinden. Es ist deswegen nicht schlimm, wenn dieser Angleichungsprozess in Alltagskultur und ‚mindset’ nun durch die Krise auch im Verständnis von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik stattfindet. Es wird Europa nicht schaden, dass sich die Europäerinnen und Europäer mehr ähneln, auch wenn sie dadurch noch lange kein klassisches Staatsvolk sein werden.
Zunächst, wie kommen wir auf die Idee eine gewaltige Umwälzung zu attestieren? In den letzten Jahrzehnten haben wir erleben können, wie die Grundfreiheiten viele der bisherigen, gefühlten Grenzen des Nationalstaats übergangen und nivelliert haben. Dieser Prozess der Integration war erfolgreich. Auch die jetzige Krise geht über Grenzen des Nationalstaats einfach hinweg, die mit dem Vertragswerk von Maastricht angetastet werden mussten, aber in der damaligen Logik unbedingt erhalten bleiben sollten – die nationale Entscheidungshoheit in der Wirtschafts- und in der Haushaltspolitik. Die Krise hat die durch die Entwicklung der Globalisierung und des Finanzwesens geschaffenen Verbindungen zwischen den öffentlichen und privaten Budgets in den Ländern der Europäischen Union offengelegt. Mit den notwendigen und richtigen Rettungspaketen wurde – in einem Maße, das weiterhin den Nationalstaat respektiert und nicht gegen das Grundgesetz oder die Europäischen Verträge verstößt – über die Grenzen des nationalstaatlichen Denkens von nationalen Staatshaushalten und Wirtschaft hinweggegangen. Bisher mussten die gemeinsamen wirtschaftsund haushaltspolitischen Werte und Ziele der EU im Wesentlichen von jedem Mitgliedsstaat nach eigenem Gutdünken geschützt werden. Die Durchsetzungsfähigkeit der EU durch die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts war nur gering. Viel stärker wirkte die zweite Säule der Durchsetzung der Ziele einer nachhaltigen Finanz- und Wirtschaftspolitik: Jedes Mitglied der EU muss an den Finanzmärkten selber gucken, wo es bleibt. Diese Regel wurde durch die Rettungspakete – in zulässigem Maße – eingeschränkt. Das heißt: Über diese Grenze ist die Krise hinweggegangen. Dieses könnte der Anfang einer Entwicklung sein, die eines Tages die Grenze selbst nivelliert. Hiervor sollte niemand Angst haben, auch nicht in Deutschland. Die nationalstaatliche Grenze – das zeigt die Krise – kann die gemeinsamen wirtschafts- und haushaltspolitischen Werte und Ziele der EU – z.B. die soziale Wohlfahrt, Kohäsion und Konvergenz, Nachhaltigkeit, aber eben auch Stabilität – nicht mehr schützen. Wer diese Ziele schützen will, auch wer das Ziel eines starken Euro – Preisstabilität – schützen will, muss die EU in die Lage versetzen, dies zu tun.
Die vielfach, fachlich unzutreffend schnell ausgesprochene ’politische Union’ würde also dann erreicht werden, wenn die EU von ihren Mitgliedern die Kraft und die Kompetenz erhält, ihre Grundsätze, Werte und Regeln selbst durchzusetzen. Wenn die EU auch in der Steuer-, Wirtschaftsund Haushaltspolitik die Kompetenz hätte, die politischen Entscheidungen der Vereinigten Staaten durchzusetzen, hätten wir eine „politische Union“. Hierbei ist offenkundig: Die Frage der Europäisierung der Haushaltspolitik berührt die Grenzen unseres Grundgesetzes. Eine Vergemeinschaftung der Haushaltspolitik würde nur im Rahmen des Beitritts zu einem Bundesstaat mit einer eigenen Verfassung anstelle des Grundgesetzes möglich sein.
Die Krise ist also der Beginn eines Angleichungsprozesses. Die wirtschaftspolitischen Grundwerte aus den europäischen Verträgen sind stark von Deutschland geprägt. Denn Deutschland brachte damals die D-Mark in die Wirtschafts- und Währungsunion ein. Deswegen wird dieser Prozess eher auf eine Angleichung nach dem deutschen Beispiel hinauslaufen als auf etwas anderes. Europa ist also keine Gefahr für das, was viele in Deutschland für ’deutsche Interessen’ halten. Vielmehr ist es so: Auch wer die Errungenschaften des ’deutschen Wirtschaftsmodells’ schützen will, muss in dieser Krise Europa die Kraft geben, diese Ziele zu schützen! Die europäische Integration ist auch in deutschem Interesse.
Was meinen wir mit ‚deutschem Wirtschaftsmodell’? Viele Grundsätze im Sinne von wirtschaftspolitischer Ordnung und Stabilität wurden von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern, Politikerinnen und Politikern formuliert. Dieses theoretische Erbe eines ‚deutschen Wirtschaftsmodells’ ist bedeutend in die Grundwerte der EU und des Euros eingeflossen. Viele Teile des theoretischen Modells halten wir mit grünen Ideen wie nachhaltigem Wachstum, nachhaltigem Wirtschaften und langfristigen, nachhaltigen Investitionen für vereinbar. Ebenso kritisieren wir aber viele Teile der Praxis deutscher Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Wir würden es nicht für richtig halten, wenn die Praxis eines überbordenden Leistungsbilanzdefizits, eine Politik der Lohnzurückhaltung auch in Boom-Zeiten, die europäisch nicht abgestimmten Senkung der Arbeitskosten durch politische Eingriffe, das unausgewogene Ansteigen von unsicherer und unzureichend bezahlter Beschäftigung, die wachsende Perspektivlosigkeit von Langzeitarbeitslosen und die Abschottung des deutschen Arbeitsmarkt gegenüber EU-Bürgerinnen und Bürgern aus den 2004 und 2007 neu beigetretenen Mitgliedsstaaten das ’glänzende’ deutsche Vorbild für die Zukunft Europas werden sollten. Dagegen aber, dass das theoretische Erbe eines ’deutschen Wirtschaftsmodells’ ein wichtiger Maßstab für Veränderungen in vielen Ländern Europas sein wird, haben wir nichts.
Die Erkenntnis, dass gerade eine gewaltige Umwälzung in Europa beginnt, stellt uns alle vor die Frage: wie handeln? Die beginnende große Umwälzung, die wir für die EU erkennen, ist letztlich die Folge technischer Neuerungen in der Kommunikationstechnik und an den Finanzmärkten, die von der Politik entweder nicht zurückgenommen werden sollten oder aufgrund des fehlenden politischen Zugriffs nicht rückgängig gemacht werden können. Es ist also anzunehmen, dass der Prozess der Angleichung der Wirtschaftskulturen zwangsläufig stattfinden wird. Das heißt aber keineswegs, dass das politische Handeln in Reaktion darauf alternativlos sei. Vielmehr gibt es verschiedene Wege, die dieser Angleichungsprozess nehmen könnte. Ohne den Versuch der Analyse und der Gestaltung dieser Umwälzung, aber auch durch ein politisches Abwenden vom Projekt der Europäischen Union wird keineswegs die Umwälzung selber behindert oder gar gestoppt werden können. Vielmehr wird die Angleichung unkontrolliert und wild passieren, als ein Windhundrennen, in dem Länder mit schlechterer Startposition automatisch abgehängt werden und soziale und ökologische Standards rasch unter Druck geraten. Um dies zu verhindern brauchen wir eine Art europäischer Wirtschaftsregierung, eine Option B eben.
Das Schlagwort der Wirtschaftsregierung ist in den letzten Monaten dabei aber zu oft genutzt worden, um noch konkret eine Bedeutung zu beinhalten. Letztlich gibt es hier zwei Wege: Erstens einer Wirtschaftsregierung der modernen Kürfürsten aus den Staatskanzleien und Kanzlerämtern der EU, die vorbei an jeder öffentlichen oder parlamentarischen Debatte im Hinterzimmer stets nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der nationalen Interessen sucht, aber das europäische Interesse außer Acht lässt. Eine Wirtschaftsregierung, die letztlich das ganz große Versprechen der Europäischen Union zunichtemachen würde. Nur die kontinuierlich fortschreitende Integration wird aber die demokratische Kontrolle Schritt halten lassen können gegenüber der sich zwangsläufig ergebenden, zunehmenden Entscheidungsmacht des ‚politischen Raums EU’, der europäischen Ebene. Diese Wirtschaftsregierung würde ein Europa der nationalen Bürokratien, der Ausschaltung der europäischen Institutionen, in erster Hinsicht des Europäischen Parlaments, und der Ignoranz gegenüber dem – zumindest in Deutschland verfassungsrechtlich verbrieften – Wesentlichkeitsprinzips bedeuten, nach dem wesentliche Entscheidungen durch die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Bevölkerung getroffen werden müssen. Das wollen wir nicht! Deswegen sind wir davon überzeugt, dass wir zweitens für eine europäische Wirtschaftsregierung streiten müssen, die parlamentarisch und europäisch legitimiert den Angleichungsprozess steuert, die wichtigen Anliegen des sozialen Ausgleichs, des ökologischen Fortschritts, der Konvergenz und der Kohäsion verteidigt und vorantreibt und deren Maxime nicht der nationale Zweck, sondern ein europäischer Mehrwert ist. Der Mehrwert, der sich durch die Zusammenarbeit ergibt, sollte im Sinne der europäischen Einigung sein. Dieser Weg einer Wirtschaftsregierung wird nur über die Gemeinschaftsmethode funktionieren, er wird nicht ohne die Kompetenz der Europäischen Kommission auskommen und er muss stets durch das Europäische Parlament, und wann immer angebracht auch durch die nationalen Parlamente, legitimiert sein. Viele werden den Prozess für technisch halten. Die Vorschläge der Europäischen Kommission über eine bessere makroökonomische Überwachung und eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (sogenannte Rehn-Vorschläge) haben nicht den roten Teppich und das Brimborium eines Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs. Und dennoch werden wir nur dann, wenn wir uns mit diesen befassen, das politische Ziel einer parlamentarisch und europäisch legitimierten politischen Steuerung des beginnenden Angleichungsprozesses erreichen. Ob diese Entwicklung wirklich zu den ’Vereinigten Staaten von Europa’ und dem ’Vereinigten Europa’ führen wird, wissen wir nicht. Wir meinen aber: Genau jetzt geht ein Prozess los, der dorthin führen könnte. Auf jeden Fall wird sich Europa gewaltig verändern in Richtung einer tieferen Integration. Auch dieser Prozess ist nicht alternativlos. Viele Alternativen werden in den kommenden Jahren einen gewissen politischen Reiz ausüben und z.T. auch gewichtige Unterstützung erfahren. Ein Zurück zum alten Nationalstaat, eine Sozialidee, die zwischen Deutschen und Europäern unterscheidet, das Heraufbeschwören einer Gefahr durch Migration und offene Grenzen und nicht zuletzt der Irrglaube, Deutschland könne wirtschaftliche allein erfolgreicher sein – all diese Ideen werden bei denen, die Angst vor Europa haben, Unterstützung finden. Und diese Menschen finden sich in allen politischen Lagern, also auch bei uns. Wir sind aber davon überzeugt, dass die Grünen diesen Alternativen zum Prozess der europäischen Integration nicht folgen sollten. Denn sie stehen unseren Vorstellungen einer selbstbestimmten sozialen, ökologischen und friedlichen Gesellschaft entgegen. Wir sollten uns diesem Prozess nicht entgegenstellen, sondern ihn annehmen und gestalten. Warum wollen wir diesen Prozess? Die Europäische Integration ist für uns auch die Antwort der Demokratie auf den Verlust der Handlungsfähigkeit der gewählten nationalen politischen Vertreterinnen und Vertreter in der globalisierten Welt. Die Errungenschaft der französischen Revolution „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ ist in der globalisierten Welt nur zu erhalten, wenn supranationale, demokratisch legitimierte Politik entstehen kann, die eine reale Wirkungsmacht gegenüber den anderen global agierenden Akteuren hat. So wie der Staat weder Mythos noch Selbstzweck ist, sondern die historisch gewachsene, global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft, so brauchen wir die Europäische Union als Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft in der globalisierten Welt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon genau das deutlich gemacht und noch einmal betont, dass es insbesondere für die deutschen Verfassungsorgane nicht in ihrem politischen Belieben steht, sich an der europäischen Integration zu beteiligen oder nicht. So begründen die Richter: „Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.“ Die Idee der europäischen Integration ist also im Sinne des Grundgesetzes, auch wenn sie dieses an seine Grenzen stoßen lässt. Die europäische Integration ist für uns Grüne aber noch bedeutender. Sie ist für grüne Politik konstitutiv. Auf Deutsch: Ohne ein Bekenntnis zur europäischen Integration ist das Grundverständnis von Bündnis 90 / Die Grünen nicht mehr als leere Versprechen! Unsere gemeinsamen Visionen, die wir in der Präambel unseres grünen Grundsatzprogramms aufgeschrieben haben, sind ohne Europa nicht zu machen. Die europäische Integration ist das einzige politische Instrument, das Bündnis 90 / Die Grünen in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen wird, um seine Vorstellungen für eine Veränderung des Planeten aussichtsreich zu vertreten. Die Grünen sind also nicht nur eine Europapartei: Nur die Europäische Union gibt uns die Chance, unsere politischen Werte und Grundüberzeugungen zu einem relevanten politischen Modell im globalen Wettbewerb der Politikmodelle zu machen. Die europäische Integration ist also nicht alternativlos, sondern vernünftig und das Beste, was uns Grünen passieren kann! Natürlich ist es dabei so, dass in der EU auch falsche politische Entscheidungen getroffen werden. Dass falsche Mehrheiten Sachen machen, die uns gar nicht passen. Natürlich kann die Vergemeinschaftung von bestimmten Politikbereichen dazu führen, dass diese durch andere Mehrheiten als hierzulande entschieden werden und in der Folge in Deutschland Verschlechterungen bedeuten. Trotzdem müssen wir Grüne grundsätzlich immer bereit sein, den Streit im politischen Raum der EU anzunehmen, wenn es sinnvoll ist etwas europäisch zu regeln. Europa ‚ohne Wenn und Aber’ ist Quatsch. Aber, wenn Europa Sinn macht, dann müssen wir auch verlieren können. Stellen wir uns dieser Auseinandersetzung erst gar nicht, haben wir bereits verloren. Doch natürlich muss nicht immer alles Europa regeln. Auch wir sehen, dass die Nationalstaaten auf dem Weg zum ‚Vereinigten Europa’ nicht wegzudenken sind. Auch ein Modell der ‚Vereinigten Staaten von Europa’ muss eingestehen, dass die europäische Ebene weder alles regeln kann noch sollte. So sehr die Erkenntnis heute fehlt, dass die EU spätestens seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein gleichwertiger politischer Raum ist, in dem legitime allgemeingültige Entscheidungen getroffen werden, wie auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene, um so mehr gehört zu den Vereinigten Staaten von Europa die Erkenntnis, dass es weiterhin die Bundes-, Landesund Kommunalebene geben muss, um Entscheidungen zu treffen. Nicht alles muss Europa regeln. Das Grundgesetz und die Europäischen Verträge sehen zu Recht beide das Vorrecht der Handlungskompetenz zunächst auf der Ebene der Teilstaaten. Ganz klar ist aber auch, dass die Zuständigkeiten der EU aus Art. 3 AEUV um Politikbereiche nach dem Vorbild der Zuständigkeiten des Bundes aus Art. 73 GG erweitert werden müssen. Wenn Rousseau erklärte, man gebe seine Naturrechte an den Staat ab, um wiederum gewisse Schutzleistungen vom Staat gewährleistet zu bekommen, muss die politische Debatte für die künftige Gestaltung der Europäischen Union um folgende These kreisen: Ich gebe meine Naturrechte an ein Mehrebenensystem von Staatlichkeit ab. Welche Ebene ist am besten zur Gewährleistungen welches meiner Schutzrechte befähigt? Nur wer dies mutig europäisch beantwortet, wird Erfolg haben können. Aber auch nur wer mutig beantwortet, was Europa nicht leisten kann und soll, wird Erfolg haben können. Wie die Geschichte des Gespenstes mit den zwei Gewändern weitergeht (und ausgeht), wird davon abhängen, wie viel Mut die Politik aufbringen kann, um diese Chance in dem beginnenden Prozess der Angleichung Europas für die Integration der Europäischen Union zu nutzen. Wir sind der Meinung, dass es den Grünen gut ansteht, die mutige Partei – die Europapartei – zu sein. Die Europapartei, die auf kommunaler, Landes- und Bundesebene der Europäischen Union Kompetenzen gönnt. Und die Europapartei, die auf europäischer Ebene den ’unteren Ebenen’ Kompetenzen gönnt. Die Vereinigten Staaten sind nichts ohne ein Europa der Regionen. Bis hier haben wir uns mit den beginnenden Umwälzungen beschäftigt. Aber warum ist gleichzeitig auch heute schon alles anders als zuvor? Warum waren die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon tatsächlich so bedeutend? Worauf müssen wir in der europäischen Debatte in Deutschland besonders achten? Denn: Deutschland hat sich in den letzten Jahren anders verändert, als seine Nachbarn und die Europäische Union. Das führt zu Herausforderungen, auf die wir uns vorbereiten müssen. Erstens: Wo steht die Europäische Union mit dem Vertrag von Lissabon? Weit ab vom klassischen Narrativ und der Wahrnehmung Europas hat sich die Europäische Union als staatliche Struktur in den vergangenen Jahren zu einem Gebilde entwickelt, das aus objektiven Gesichtspunkten durchaus als Bundesstaat bezeichnet werden kann. Er folgt in seiner Struktur und Darstellung keinem bisher bekannten nationalstaatlichen Modell, ist aber juristisch spätestens seit dem Lissabon-Vertrag von seiner vorwiegend intergouvernementalen Aufstellung abgewichen. Mehrheitsentscheidungen in Kernbereichen souveräner Staatlichkeit wie etwa Polizei und Justiz sowie Kompetenzabgabe an die übergeordnete Ebene in der Außenpolitik sind dafür klare Belege. Der staatliche Aufbau der Union ist längst keine sektorielle Gestaltung gemeinsamer Politiken mehr sondern ein fester Rahmen für übergeordnete Bundespolitik (hier nur in anderem, akzeptierten Wording: Unionspolitik). Allein die politische Leugnung dieser Tatsache schafft sie nicht aus der Welt. Dies sieht auch das Bundesverfassungsgericht so.1 Mit der Schaffung eines neuen Verhältnisses von Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sowie der Kompetenz des EuGH für alle (auch die zweite und dritte) ehemaligen Säulen der Gemeinschaft ist eine Verfassungsjudikative geschaffen worden, die die eines Bundesstaates ist (Europarat und EGMR bleiben dabei Völkerrecht auch aus Sicht der EU). Die EU ist Völkerrechtssubjekt, denn sie tritt der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Sie ist ein Staat. Die Menge an Rechtsetzungsmaßnahmen der Unionspolitik hat in den vergangenen 10 Jahren rasant zugenommen. Dabei geht es nicht um begrenzte Rahmenentscheidungen sondern um Grundsatzentscheidungen aller Lebensbereiche. Es werden Steuersätze, Beschuldigtenrechte, Beschäftigtenrechte, Verbraucherrechte, Roamingpreise, Datenschutzgesetze, Einwanderungsbedingungen, Gesundheitsregeln, Umweltschutzgesetze, Beihilfen, Forschungsausgaben, Endlagersuche und vieles mehr auf EU-Ebene harmonisiert. Dabei finden die Debatten und Entscheidungen in Parlament und Rat als gesetzgebende Kammern statt, die unmittelbar und mittelbar vom Volke gewählt werden. Die Unionsebene ist die derzeit wichtigste Ebene im Staat. Ob wir es wollen und als solche bezeichnen oder nicht. Die völkerrechtliche Definition des Staates basiert auf dem Dreiklang von Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsbevölkerung. Längst übt die Union ihre Staatsgewalt aus. Dies geschieht zwar durch Beamte der Mitgliedstaaten, aber das Unionsrecht ist unmittelbar bindend, die Politiken selbst in Bereichen wie innerer und äußerer Sicherheit eng verwoben und fortlaufend in Agenturen zusammengeführt. Das Staatsgebiet ist der Geltungsbereich der mächtigen Verträge und des Unionsrechts. Das Staatsvolk bzw. besser die Staatsbevölkerung sind die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die eine gemeinsame Unionsbürgerschaft besitzen. Würde dieser Teil der Staatsdefinition eng geführt, wären auch Belgien und Spanien keine Staaten. Unterschiedliche Sprachen sind dabei kein Hindernis. Die einzige Frage, die sich daraus stellt: Welche Legitimation hat dieser Staat? Die Legitimation des existierenden Staatsgebildes der Europäischen Union ist durch zwei Dinge getragen: Die formelle Legitimation (Wahlen, direkt und indirekt) sowie die grundsätzliche Zustimmung als Folge des klassischen europäischen Narrativs. Eine materielle Input-Legitimation aus gesellschaftlich geäußerter Zustimmung zu ziehen, ist derzeit nicht möglich. Eine Output-Legitimation schon eher, wobei in vielen Fällen gerade der Output delegitimierend wirkt, da die Ergebnisse oft vollkommen anders aussehen, als die Bevölkerung sie diskutiert hat. Die mangelnde Öffentlichkeit und Wahrnehmung für das Wesen der EU ist daher die größte Legitimitätsschwäche der Union. Bei einem schon existierenden Staat bedeutet dies, dass es entweder das Bemühen aller zur Schaffung dieser Öffentlichkeit geben kann, oder den baldigen Zerfall. Zweitens: Was hat sich in Deutschland so grundlegend verändert? Wir alle wissen es: Das Narrativ des Friedens als Grund für eine pro-integrationistische Grundhaltung in Deutschland ist bei weitem nicht falsch oder überholt. Aber es zieht nicht mehr. Die proeuropäischen Kräfte in Deutschland müssen sich dieser Wahrheit stellen und erkennen, wie erfolgreich Europa Deutschland verändert hat. Die selbstverständliche Freundschaft über die 1 Sogar das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtssprechung in den vergangenen Jahren, insbesondere mit dem jüngsten Mangold-Urteil, die Hierarchie der Rechtsordnungen weitgehend anerkannt und damit als letztes Verfassungsgericht seine (Erst- und) Letztentscheidungskompetenz abgegeben. Grenzen des Nationalstaats hinweg und die tatsächlich erfolgte Angleichung der Lebensverhältnisse in den letzten 50 Jahren sind so ein fester Stein in den Köpfen der Menschen in Deutschland, dass sie nicht das Gefühl haben, Europa für den Frieden mit den europäischen Nachbarn zu brauchen. Wir streiten zu oft mit einem Friedensargument für Europa, das sich für viele erledigt hat. Dabei müssen wir thematisieren, was sich in Deutschland seit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs’ verändert hat. Deutschland ist heute ein vereinigtes Land in der Mitte Europas, es ist nicht nur real in Bezug auf Bevölkerungszahl und Wirtschaftsleistung sondern auch wieder vom eigenen Verständnis her größtes Mitglied der EU, Deutschland wurde in den letzten 15 Jahren konsequent und recht erfolgreich an den Herausforderungen des globalen Wettbewerb ausgerichtet und Deutschlands Außenpolitik hat in den letzten 15 Jahren eine neue selbstbewusste und unabhängige Rolle in der Weltpolitik eingenommen. Diese neue deutsche Realität hat das Land verändert. Ähnlich wie sich der Hamburger (bewusst nur die männliche Form) als ‚Weltmann’ gar nicht erst mit Hannoveranern oder Bremern abgibt, gibt es in Deutschland die Tendenz als ’Exportweltmeister’ sein Glück in Fernost oder Übersee zu suchen, aber die Partner in Straßburg, Wien oder Prag zu übersehen. Wir meinen damit nicht die deutsche Politik, die sich – abgesehen von einigen Ausrutschern der Regierung Merkel – sehr viel Mühe um ein gutes Verhältnis zu Paris, Warschau etc. gibt. Wir meinen aber das Bewusstsein, das sich in der deutschen Öffentlichkeit und veröffentlichen Meinung zeigt. Je mehr die Wirtschafts- und Politikprozesse seit dem Beginn des Binnenmarkts zusammengewachsen sind, umso mehr begann in Deutschland eine sich auf rein deutsche Begründungszusammenhänge reduzierende Nabelschau anhand eines fiktiven, aber deutschen ‚Wir’. Dieses ‚Wir’, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen ist nicht aggressiv oder böse, es ist nicht unlogisch oder unnatürlich. Aber: Es hat kaum noch einen Bezug zu Europa: ‚Wir’ sind Exportweltmeister, Weltmeister der Herzen, wir sind globalisiert, wir sind erfolgreich. Aber Europa brauchen wir nicht mehr, es ist mehr und mehr „Klotz am Bein“, wir sind Zahlmeister, die wollen nur unser Geld. Dabei müssen wir deutschen Europäer erkennen, dass diese deutsche Nabelschau die eigentliche Gefahr für Europa ist. Das Verhalten der Bundesregierung in der Krise hat besonders deutlich aufgezeigt, was uns droht, wenn wir nicht das natürliche, positive und entspannt patriotische ‚Wir’ der Deutschen mit der Idee der europäischen Integration untrennbar zusammenbringen. Wir ProEuropäerinnen und Europäer müssen es schaffen, dass die Stärke Deutschlands nicht in einen gedanklichen deutschen Sonderweg führt. Europa würde wiederum daran scheitern. Vielmehr müssen wir aus unserem Gutmenscheneuropäertum herauskommen und die deutschen Interessen an der europäischen Integration in das ’Wir’ einpflanzen. Europa geht nur – wie 1955 – über die Einbindung der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands in die Gemeinschaft. Und eben nicht über das Kleinhalten der deutschen Stärke sondern das Einbinden und das Weiterentwickeln der deutschen Stärke in der Gemeinschaft. Das Einbinden dieser Besonderheiten Deutschlands in die Gemeinschaft ist ein Friedensnarrativ! Wir haben das große Glück, dass wir diese Geschichte ohne die permanente Drohung eines Atomkriegs auf deutschem Boden schreiben können. Die Überlegungen der Vereinigten Staaten von Europa und des Vereinigten Europas stoßen auf zweierlei Skepsis. Viele empfinden sie als Zukunftsmusik und können sich ein Europa ohne souveräne Nationalstaaten nicht vorstellen. Andere kritisieren, dass im Konzept von ‚Vereinigten Staaten’ ein nationalstaatsgeprägtes Denken verankert ist, das sich auf Staatenbildung im Zuge der französischen Revolution bezieht und kein neues gedankliches Modell ausdrückt. Beide Kritiken treffen zu: Ja, die Vereinigten Staaten sind eine Zukunftsmusik. Wir wissen nicht, wann sie eintreten und ob wir es dann tatsächlich rechtzeitig merken. Aber wir wissen: Wenn wir diese Musik nicht mehr spielen, dann geht uns der Soul verloren, um zu erklären, warum wir uns jeden Tag mit viel Einsatz europäisch engagieren. Denn ohne europäische Vision können wir den Menschen nicht erklären, was gerade passiert. Und natürlich gefällt auch uns die Idee eines ‚Vereinigten Europa’ besser als die eines Nachzeichnens einer Staatenbildung eines föderalen europäischen Bundesstaates auf Grundlage der Blaupause der Nationalstaatswerdungen des 19. Jahrhunderts. Aber Europa ist eben zutiefst durch die nationalstaatlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts geprägt. Darum wird auch der Weg zu einem ‚Vereinigten Europa’ über die ’Vereinigten Staaten von Europa’ führen. Europa wird dabei immer zwei große Nachteile haben. Europa kann sich nicht auf die Erfüllung eines historischen Ideals aus der Zeit der Ethnogenese seiner Staatsvölker berufen, und es kann nicht mit alten Heerführern und Königinnen und Königen, mit alten Burgen und Bauten argumentieren. Es wird hoffentlich nie durch gewonnene Kriege oder die Konstruktion einer göttlichen Abstammung der Führerinnen und Führer der EU das einfach beantworten können, was sein größtes Legitimationsproblem ist: Die Komplexität der von Politik zu entscheidenden Sachverhalte multipliziert um die Komplexität eines supranationalen Entscheidungsfindungsgerüsts mit Elementen der Widerspiegelung von Mehrheit und Minderheit und Elementen der Idee von Konkordanzdemokratie verursacht eine Entscheidungselite und eine Elite derjeniger, die die Entscheidungen überhaupt bewusst nachvollziehen. Jedes Modell einer künftigen Union muss hier Antworten liefern, denn ohne die legitime Nachvollziehbarkeit der relevanten Entscheidung wird die europäische Integration eher Scheitern, als durch Wirtschaftskrisen oder schlechte Regierungen in einzelnen Hauptstädten. Die Frage ist, ob uns etwas Besseres einfällt als diese Nachteile durch ein drittes Element europäischer Tradition des 19. Jahrhunderts auszugleichen. Wie die jungen Nationalstaaten des Europas der Kolonisierenden die Unterdrückung und Ausbeutung der Kolonisierten nutzten, um sich selber eine Mission und eine Identität zu verleihen, verlangen viele heute nach der identitätsstiftenden Abgrenzung Europas, seiner Werte und Rechtsvorstellungen gegenüber der wilden und ungeordneten multipolaren Weltordnung ‚da draußen’. Wollen wir die Unterschiedlichkeit nach außen deutlicher beschreiben, deutlicher betonen, zuspitzen, absolutieren und in ein neues Selbstbild der Europäer projizieren, um eine Unterschiedlichkeit zu erzeugen, aus der ein innerer Zusammenhalt wachsen kann? Soll Europa der gute Raumschiffkapitän sein, der die alles assimilierende Horde der Despotie und Unfreiheit für uns stoppt und damit uns erklärt warum wir zusammengehören? Wir sind der Meinung, dass Europa nicht in diese Falle stapfen darf, der EU muss etwas Besseres einfallen um den inneren Zusammenhalt zu erzeugen! Dieser Text stellt einen Beitrag von Mitgliedern des Grünen Zukunftsforum Europa dar, dass in diesem Jahr Grundsätze für eine Grüne Politik in Europa formuliert. Als Zwischenruf wollen wir Interessierte in und außerhalb der Partei zur Teilnahme an der Debatte animieren. 15.02.2011
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