Europa freut sich über die Sommerpause. Die letzten Monate waren ereignisreich. Vom Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bis hin zu den veröffentlichten Stresstests für Banken hat die Politik in der EU ein unglaubliches Pensum absolviert.
Dabei ist festzuhalten: Vieles ist anders, als wir es gewohnt sind. Gerade wir Europäer/-innen in Deutschland sollten uns über die letzten Monate Gedanken machen und uns auf einen heißen Herbst vorbereiten.
Die Debatte um Kredithilfen für Griechenland, die revolutionären Ereignisse des EU-Gipfels vom 7. bis 9. Mai, die Diskussion um eine zukünftige Europäische Wirtschaftsregierung und die neue EU-Wachstumsstrategie 2020: Wir haben in den letzten Monaten miterleben müssen, wie die deutsche Politik den Ereignissen auf der europäischen Bühne nur noch hinterher gehechelt ist. Unabhängig von einer – je nach parteipolitischer Prägung – unterschiedlichen Bewertung dieser Ereignisse ist festzuhalten: Die mangelnde programmatische Vorbereitung Deutschlands auf anstehende, immer noch ungelöste europapolitische Fragen war schädlich für die deutschen Interessen in der EU. Sie hat vor allem dem wichtigsten Interesse der deutschen Außenpolitik geschadet: der europäischen Integration.
Über die Europafähigkeit Deutschlands
Es ist besonders bemerkenswert, dass ausgerechnet das wirtschaftlich so starke und selbstbewusste Deutschland in der Debatte um die künftigen wirtschaftspolitischen Integrationsschritte eine derart defensive und zum Teil destruktive Rolle eingenommen hat. War doch die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren mit Abstand der größte wirtschaftliche Gewinner des gemeinsamen Binnenmarkts und der Osterweiterung. Zudem ist schon seit langem klar: der Auftrag der „starken wirtschaftspolitischen Koordinierung“ aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU ist von den EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten noch nicht erfüllt. Überdies wurde schon in der Euro-Debatte der 1990er Jahre über das Ungleichgewicht zwischen einer vergemeinschafteten Währungspolitik einerseits und einer nationalstaatlich geprägten Steuer- und Haushaltspolitik andererseits diskutiert.
Diese Themen und Fragen lagen also schon lange auf dem Tisch. Die massive Verschuldung von privaten und öffentlichen Haushalten, gesteigert durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, war eine von vielen möglichen Situationen, die diese Fragen wieder auf die Tagesordnung bringen würden.
Wären Bundesregierung, Bundestag, Parteien, Medien und die Öffentlichkeit auf diese Debatte besser vorbereitet gewesen, hätte Deutschland im richtigen Moment proaktiv seine Überzeugungen einbringen und positive Impulse für künftige Lösungen geben können. Stattdessen rückten Bundesregierung und Medien in einer Art Burgfrieden zusammen und begannen an einer der Grundüberzeugung aller Europäer/-innen zu nagen: dem Zusammengehörigkeitsgefühl aller Bürger/-innen der EU. So wurde aus einer Schuldenkrise eines kleinen, wirtschaftlich vergleichsweise nicht besonders starken Staates der EU – Griechenland – der Lakmustest für die Europafähigkeit des wirtschaftlich stärksten und politisch unverzichtbaren EU-Mitglieds – Deutschland. Der Rückfall in nationale Rhetorik von Regierung und Medien und der fehlende Wille europäische Lösungen zu gestalten, hat das Ansehen Deutschlands als Motor der europäischen Integration beschädigt.
Lehren aus den Ereignissen
Die fehlende Bereitschaft in Politik und Medien, sich sachgemäß mit europapolitischen Fragen – auch in ihren Fachbereichen – zu beschäftigen und eigene Verständnis- und Wissenslücken aufzuholen, kann von uns nicht länger hingenommen werden. Beispielhaft hierfür war das schwache Auftreten Deutschlands bei den Verhandlungen um die EU-2020-Strategie. Jahrelang – also auch über die Zeit der jetzigen Regierung hinaus – haben sich Teile in den Ministerien und in der Regierung geweigert, überhaupt über eigene Vorstellungen zu Fragen einer europäischen Wirtschaftsregierung nachzudenken. Eine Diskussion mit größter Bedeutung für die künftige Aufstellung der EU, die jetzt über die Bundesregierung hereingebrochen ist und bisher von deutscher Seite kaum mitgestaltet wurde. Die Medien haben es in den vergangenen Jahren ebenso verpasst, die Öffentlichkeit zu einer Auseinandersetzung mit der Realität des Binnenmarkts zu bringen. Auch fast 20 Jahre nach der Verwirklichung des Binnenmarkts 1993 wurde der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt, Deutschland könne einfach so aussteigen – aus dem Euro oder dem Binnenmarkt.
Uns Europäer/-innen erwartet ein heißer Herbst mit zahlreichen Richtungsentscheidungen: von der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts über die stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung, der beginnenden Debatte um die neue finanzielle Vorausschau, den avisierten Entscheidungen zur Zukunft der gemeinsamen Agrarpolitik bis hin zu einer möglicherweise aufkommenden Diskussion darum, wie ein dauerhafter Hilfsmechanismus für Pleite-Staaten aussehen soll und wie eventuelle Verfahren von Staateninsolvenz ausgestaltet werden könnten.
Einerseits werden wir als überzeugte Europäer dafür zu kämpfen haben, dass in diesen Entscheidungen das Gemeinschaftsprinzip gestärkt und nicht die Machtverschiebung zu Gunsten des Rats weiter vorangetrieben wird. Und andererseits werden wir uns auf neuerliche Debatten in der deutschen Öffentlichkeit gefasst machen müssen, die den Grundsatz der Integrationspflicht und Integrationsverantwortung in der EU in Frage stellen und schnöde ausrechnen werden, dass es „für die Deutschen“ ohne die EU ohnehin viel besser sei. In dieser Situation müssen wir deutlich machen, dass Europa mehr wert ist! Ohne Deutschlands Beitrag zur europäischen Integration wird das europäische Projekt nicht gelingen können.
Manuel Sarrazin, MdB, ist Sprecher für Europapolitik, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und kooptiertes Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland.
Erschienen in „treffpunkt.europa – Zeitschrift der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland“, Ausgabe 02/2010. Link zur vollständigen Ausgabe
einzwischenrufvonmanuelsarrazinatempausevoreinemheissenherbstjef-zeitschrift02-2010.pdf