Kleine Anfrage der Abgeordneten Markus Kurth, Manuel Sarrazin, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Nestle, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Gerhard Schick, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Am 3. März 2010 hat die EU-Kommission ihre Mitteilung zur so genannten EU- 2020-Strategie mit dem Titel „Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ (KOM(2010) 2020) vorgelegt. Auf dem Europäischen Rat am 17./18. Juni 2010 soll die Strategie von den Staats- und Regierungschefs angenommen werden. In ihrer Mitteilung schlägt die EU-Kommission fünf Kernziele vor, die die Mitgliedstaaten der EU bis 2020 erreichen sollen. Eines der Ziele sieht vor, die Zahl der armutsgefährdeten Personen bis 2020 um 20 Millionen zu senken. Das bedeutet eine Senkung der in Armut lebenden Menschen um 25 Prozent. Die 25 Prozent beziehen sich auf den so genannten relativen Armutsindikator oder 60 Prozent des Medianeinkommens. Bereits 2001 hat sich der Europäische Rat in Laeken auf diesen Indikator als Indikator für das Armutsrisiko („at risk of poverty“) für die Armutsberichterstattung in Europa geeinigt und seitdem hat er sich als gängiger Indikator für internationale Vergleiche in der EU etabliert. Seit diesem Beschluss wurde er auch von der Bundesregierung sowohl bei den Nationalen Aktionsplänen für soziale Eingliederung als auch für die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung verwendet.
Auf dem Europäischen Rat am 25./26. März 2010 sollte eine erste politische Einigung über die fünf Kernziele erfolgen. Die Bundesregierung hat aber auf dieser Tagung Kritik an der Verfolgung dieses Ziels und an dem vorgeschlagenen Indikator zur Messung der Armut geäußert. Daraufhin wurde die politische Einigung über dieses Ziel, sowie über die Ziele im Bereich der Bildungspolitik, vertagt (siehe Schlussfolgerungen zum Europäischen Rat, Tagung am 25./26. März 2010).
Wir fragen die Bundesregierung:
- Hält die Bundesregierung das Ziel eines integrativen Wachstums als eines der Zielbestimmungen im Rahmen der Strategie EU 2020 für erstrebenswert, und was versteht die Bundesregierung unter diesen Begriff?
- Welchen Stellenwert haben für die Bundesregierung sozialpolitische Ziele im Rahmen der EU-2020-Strategie?
- Hält es die Bundesregierung für ein erstrebenswertes Ziel, gemeinsam im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung Anstrengungen zu unternehmen, a) die Armut in der EU zu reduzieren, b) innerhalb der nächsten 10 Jahre konkret anzustreben, die Zahl der Europäerinnen und Europäer, die unter den relativen nationalen Armutsgrenzen leben, zu senken und c) diese Zahl um 25 Prozent bis zum Jahr 2020 zu senken, und wenn nein, warum nicht?
- Welche anderen Indikatoren zur Messung relativer Armut als den 2001 vom Europäischen Rat eingeführten, der sich an 60 Prozent des Medianeinkommens im jeweiligen Mitgliedsstaat orientiert, sind der Bundesregierung bekannt, und hält die Bundesregierung sie für besser geeignet, und wenn ja, warum?
- Welche Kritik hat die Bundesregierung an dem in Laeken beschlossenen Armutsinidikator, und seit wann und wie äußert die Bundesregierung diese Kritik bzw. hat diese geäußert
- Hat die Bundesregierung Kritik an a) der Wahl der Äquivalenzskala, b) der Höhe der Prozentzahl der relativen Armutsgrenze, c) der Verwendung nationaler Durchschnitte, d) der Berücksichtigung ausschließlich des Einkommens, und welche Alternativen schlägt die Bundesregierung jeweils vor?
- Hat sie den bzw. die unter Frage 3 angegeben Indikatoren bereits auf einer Sitzung des Europäischen Rates vorgeschlagen, und wenn die Bundesregierung diesen Indikator bereits auf der Tagung des Europäischen Rates im März 2010 vorgeschlagen hat, welche Widerstände gab es im Rat dies- bezüglich, und warum?
- Hält die Bundesregierung den bzw. die unter Frage 3 genannten Indikatoren in der EU für konsensfähig, um ihn/sie auf dem Europäischen Rat am 17./18. Juni 2010 für den Beschluss vorzuschlagen?
- Falls die Bundesregierung weitere Indikatoren zur Messung relativer Armut vorschlägt, sollen diese komplementär zum Indikator eingesetzt werden, der sich an 60 Prozent des Medianeinkommens orientiert, oder diesen Indikator ersetzen, und hat sie das bereits auf dem Europäischen Rat am 25./26. März 2010 vorgeschlagen?
- Warum wurden diese Vorschläge nicht in das Abschlussdokument, d. h. in die Schlussfolgerungen vom Europäischen Rat am 25./26. März 2010, aufgenommen, und könnte die Bundesregierung die Gegenargumente der anderen Regierungen und der Europäischen Kommission detailliert erläutern?
- Falls die Bundesregierung keine weiteren Indikatoren zur Messung relativer Armut vorschlägt, soll die relative Armut weiterhin anhand des Indikators, der sich an 60 Prozent des Medianeinkommens orientiert, ermittelt werden?
- Wie begründet die Bundesregierung ihre Ablehnung gegenüber dem Indikator, der sich an den 60 Prozent des Medianeinkommens orientiert, vor dem Hintergrund, dass dieser auf dem Europäischen Rat in Laeken angenommen wurde und seitdem als gängiger Indikator, z. B. im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung, angewendet wird?
- Hat die Bundesregierung Kritik an weiteren in Laeken beschlossenen Indikatoren, und wenn ja, an welchen, und warum?
- Hält die Bundesregierung die vorgeschlagene Reduzierung der Armut um 25 Prozent für zu niedrig oder zu hoch, oder hält die Bundesregierung ein quantitatives Ziel grundsätzlich für falsch?
- Wenn die Bundesregierung ein quantitatives Ziel grundsätzlich für falsch hält, warum kritisiert sie nicht auch andere quantitative Ziele, wie z. B. die zur Beschäftigung, oder werden auch diese von der Bundesregierung in Frage gestellt‘?
- Wie interpretiert die Bundesregierung Artikel 151 und insbesondere Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe j des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der besagt, dass die Union die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung des Zieles „Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“ unterstützt und ergänzt?
- Unterstützt die Bundesregierung den Vorschlag der EU-Kommission, im Rahmen der EU-2020-Strategie als eine der sieben Leitinitiativen die Etablierung einer „Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut“ einzurichten, und wie hat sich die Bundesregierung hierzu im Rat geäußert?
- Was sollten nach Auffassung der Bundesregierung die Aufgaben einer „Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut“ sein?
Berlin, den 27. Mai 2010
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
(Deutscher Bundestag; Drucksache 17/1870; 17. Wahlperiode)
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