Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Fritz Kuhn, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Priska Hinz (Herborn), Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Sylvia Kotting-Uhl, Markus Kurth, Agnes Malczak, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Beate Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Brigitte Pothmer, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU 2020 – Für ein ökologisches und soziales Europa
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Das Prinzip der Solidarität zwischen Menschen und Staaten ist das Fundament der EU. Sie hat Grundlegendes für den ökonomischen, ökologischen und sozia- len Fortschritt erreicht und das Leben der Bürgerinnen und Bürger dadurch in zahlreichen Lebenslagen verbessert. Die Währungsunion als Ausdruck eines zunehmend integrierten Europas stellt in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten Errungenschaften dar.
Der Europäische Rat von Lissabon beschloss im Jahr 2000 eine Strategie, deren Ziel lautete, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens- basierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeits- plätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Zehn Jahre später ist offensichtlich, dass diese Ziele überwiegend nicht erreicht wurden. Statt einer integrierten Strategie, in der wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele gleichrangig miteinander verbunden sind, kam es zu einer zunehmenden Verselbständigung des Wachstums- und Beschäftigungsziels, zu falschen Prio- ritätensetzungen und damit zur Vernachlässigung der Nachhaltigkeitsziele.
Ohne die unzureichende Wirksamkeit der Lissabon-Strategie ausreichend zu analysieren, wird nun unter hohem Zeitdruck eine Nachfolgestrategie ausgear- beitet – die sogenannte Strategie EU 2020. Die Annahme einer neuen Rah- menstrategie auf dem bevorstehenden Frühjahrsgipfel im März 2010 ist von strategischer Bedeutung für die Ausrichtung der EU in den kommenden zehn Jahren. Jetzt müssen die Weichen gestellt werden für eine Union, in der die Politik nicht den Märkten dient, sondern den Menschen. Entscheidend ist, dass die Strategie EU 2020 in einem transparenten und demokratischen Prozess auf den Weg gebracht wird. Eine erfolgreiche politische Rahmenstrategie muss unter breiter Beteiligung der nationalen Parlamente und des Europäischen Par- laments sowie der politischen Öffentlichkeit zustande kommen, sie darf nicht technokratisch verordnet werden.
Auch den Verbindlichkeitsgrad der neuen Strategie gilt es zu überprüfen. Mit der Einführung der offenen Methode der Koordinierung (OMK) hat die EU ein neues Instrument eingeführt, das einen wichtigen Fortschritt bedeutet. Aller- dings lag ein Grund für die Misserfolge der Lissabon-Strategie auch darin, dass die OMK in ihrer Wirkung zu unverbindlich ist. Deshalb braucht es eine ver- bindlichere und demokratischere Art der Governance. Aber auch verbindliche Regeln wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt müssen überprüft werden. So zeigt der Fall Spanien, dass nicht nur eine hohe öffentliche Verschuldung son- dern auch ausufernde private Schulden die Stabilität der Europäischen Union gefährden kann.
Europa braucht jetzt einen „Green New Deal“ der darauf basiert, nicht mehr auf Kosten anderer und der Umwelt zu leben. Er soll ein nachhaltiges Fundament für eine Wirtschaft legen, die sparsamer mit den kostbaren Ressourcen umgeht und neue Arbeit mit Zukunft schafft. Dazu braucht es kluge Innovationen – nicht nur technologische, sondern auch soziale und kulturelle. Außerdem müs- sen die Investitionen in Bildung und Forschung verstärkt werden, um soziale Gerechtigkeit und Wohlstand in einer globalisierten Wirtschaft, die von Wissen und Innovationen angetrieben wird, weiterentwickeln zu können. Ein „Green New Deal“ verbindet ökologische Zielstellungen mit einer Politik der Teilhabe und der sozialen Sicherheit, die allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben er- möglicht und ihnen neue Chancen der Entfaltung gibt. Mit dieser Verbindung ergeben sich auch neue wirtschaftliche Chancen.
Die griechische Schuldenkrise und die angespannte Situation in den anderen südeuropäischen Ländern hat die fundamentale Schwäche der europäischen In- tegration offenbart. Der Währungsunion steht eine unzureichende politische Union gegenüber. Wir brauchen schnelle, mutige wie kreative Antworten, sonst ist das gesamte europäische Integrationsprojekt gefährdet.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen sich jetzt zum Ziel setzen, mit der Strategie EU 2020 in der kommenden Dekade messbare Fortschritte hin zu ei- nem „Sozialen Europa“, einem „Grünen Europa“ des naturverträglichen Wirt- schaftens, einem „Demokratischen Europa“ der Bürgerinnen und Bürger, einem wirtschaftspolitisch stärker „Koordinierten Europa“, einem „Innovativen Europa“ im Bereich Bildung und Forschung und einem Europa in globaler Ver- antwortung zu erzielen.
- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
beim Europäischen Rat am 25. und 26. März 2010 für die Vereinbarung folgen- der übergeordneter Ziele der Strategie EU 2020 einzutreten:
- Die Bekämpfung von Armut insbesondere von Kindern und Jugendlichen und die Förderung der sozialen Eingliederung durch die EU und ihre Mit- gliedstaaten. Unser Ziel ist es, dass alle EU-Bürgerinnen und -Bürger in den Mitgliedstaaten einen individuellen Anspruch auf eine Mindestsicherung in der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums geltend machen können.
- Die Ausgestaltung einer inklusiven Arbeitswelt und inklusiver Arbeits- märkte. Dabei muss besonders die wachsende Kluft zwischen „regulär“ und atypisch Beschäftigten und ihre soziale Sicherheit in den Blick genommen werden. Die Qualität von Arbeit muss verbessert und die Rechte von Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern EU-weit gestärkt werden. Überall in der EU muss ein gleichwertiger Standard beim Arbeitsschutz gelten. Notwendig sind außerdem verbindliche und allgemeingültige Mindestarbeitsbedingun- gen wie Mindestlöhne, die in den Mitgliedstaaten gleiche Voraussetzungen für Beschäftige und Unternehmen schaffen. In Zukunft muss es gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort geben. Der Abbau der Entgeltunterschiede zwischen Männern und Frauen muss eine wichtige Zielvorgabe im Rahmen der Strategie EU 2020 werden.
- Die Stärkung und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme. Dabei muss das Ziel verfolgt werden, den Menschen zu ermöglichen, flexibel zu arbeiten und abgesichert zu leben. Dafür sind Instrumente notwendig, die in ihrer Wirkung verbindlich sind. Flexibilität auf den europäischen Arbeitsmärkten muss auf ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und einen funktionierenden Sozialdialog gründen.
- Eine verbindliche Ausgestaltung legaler und dauerhaft angelegter Wege für die Einwanderung in die EU und der gesellschaftlichen und politischen Teil- habemöglichkeiten von Migrantinnen und Migranten in den Mitgliedstaaten. Dazu gehören insbesondere die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen, Erleichterungen bei der Familienzusammenführung und die Erweiterung des Kommunalwahlrechts auf Drittstaatsangehörige.
- Die ökologische Modernisierung der europäischen Industrie als Schwer- punkt der Strategie EU 2020. Europa muss die Krise nutzen, um die techno- logische Erneuerung in allen Industriezweigen voranzutreiben, statt veraltete Strukturen und Konzepte zu konservieren. Die Strategie EU 2020 muss zu einer systematischen Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Wachs- tum des Energie- und Ressourcenverbrauchs führen. Wirtschaftswachstum ist nur dann akzeptabel, wenn der Verbrauch von nicht erneuerbarer Energie sowie von Ressourcen signifikant abnimmt. Das ist die Innovationsstrategie einer zukunftsweisenden ökologischen Modernisierung. Diese Strategie ver- langt die Durchsetzung des Prinzips der Internalisierung der externen Kosten und muss mit der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie verknüpft werden.
- Eine EU-Strategie 2020 muss sich zudem konsequent am Klima- und Bio- diversitätsschutz orientieren. Um einen gefährlichen Klimawandel zu ver- hindern, müssen die Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 40 Prozent und bis 2050 um mindestens 90 Prozent senken. Die unbedingte Selbstverpflichtung, den Ausstoß der Treibhausgase um minus 30 Prozent bis 2020 zu senken muss dabei als Mindestziel auch in der Strategie EU 2020 verankert werden. Damit die notwendigen mittel- und langfristigen Klimaziele erreicht werden können, muss die Strategie jetzt schon die notwendigen Weichen stellen. Dies betrifft vor allem die Bereiche Energieerzeugung, Verkehr und Gebäude.
- Die Weiterentwicklung und Stärkung der europäischen Forschungspolitik dergestalt, dass die Impulse der europäischen Forschung für die Transforma- tionsprozesse im Rahmen eines „Green New Deal“ und einer nachhaltigen Entwicklung realisiert werden können. Um Wissen und Innovationsfähigkeit in der EU zu steigern, muss ein echter europäischer Forschungsraum ge- schaffen werden, in dem u. a. die Vernetzung und die Mobilität von Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden. Die EU-Forschungsför- derung muss sich insgesamt, aber auch in den Forschungsrahmenprogram- men vermehrt an den drängenden Fragen unserer Zeit orientieren. Die Ziele europäischer Wissenschaftsförderung müssen demokratisch diskutiert und kontrolliert werden. Um auch kleinen und mittleren Unternehmen For- schung und Innovation zu ermöglichen, müssen Mikroprogramme aufgelegt werden und Komplementärkredite der Europäischen Investitionsbank er- möglicht werden.
- Europa als ressourceneffizientesten Wirtschaftsraum mit der Zielsetzung von 100 Prozent erneuerbarer Energie zu gestalten, der verbunden mit einer kohlenstoffarmen Wirtschaftsweise, die natürlichen Ressourcen – insbeson- dere die Biodiversität – schützt. Elementar hierfür sind der Ausstieg aus der Atomkraft, die Abkehr von der Kohlekraft, die Forcierung der Energieeffizienz sowie die konsequente Umgestaltung der europäischen Agrar- und Fischereipolitik hin zu nachhaltigen, tiergerechten und gentechnikfreien Bewirtschaftungsformen sowie die Sicherstellung qualitativ hochwertiger Erzeugung, nachhaltigen Konsums und gesunder Ernährung.
- Konkrete Vorschläge für die Stärkung und Durchsetzbarkeit der politischen Instrumente und verbindlichen Regeln für eine bessere Koordination der Wirtschafts-, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der Mitglied- staaten.
- Die Rolle des makroökonomischen Dialogs sollte gestärkt und ein Europäi- scher Makroökonomischer Sachverständigenrat eingeführt werden. Die ma- kroökonomischen Leitlinien einer europäischen Wirtschaftspolitik sollten unbeschadet der Rechte der nationalen Parlamente im Europaparlament dis- kutiert und parlamentarisch mit entschieden werden.
- Ein Ende des Wettlaufs der Steuersysteme. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert einen einheitlichen europäischen Mindestsatz für die Unternehmenssteuer, da viele international operierende Unternehmen die uneinheitlichen Steuersätze der EU-Länder zum Nachteil der Steuerzahle- rinnen und Steuerzahler ausnutzen. Zudem braucht Europa eine Zinssteuer- richtlinie mit Biss, die Besteuerungslücken schnellstmöglich schließt. Die bestehende Zinssteuerrichtlinie muss auf alle Empfänger von Kapitalein- künften und auf alle Arten von Kapitaleinkünften ausgedehnt werden.
- Die Schaffung eines verlässlichen, demokratisch legitimierten und transpa- renten Finanzsystems der EU. Dazu müssen die nationalen Beiträge für die Finanzierung des EU-Haushaltes verringert werden und durch europäisierte Steuern und Steueranteile ersetzt werden. Das soll durch die Besteuerung von Kraftstoff, z. B. durch eine CO2 basierte Energiebesteuerung und die Einführung einer Finanzumsatzsteuer (Financial Transaction Tax) erreicht werden. Eine europaweite Finanztransaktionssteuer dämmt Spekulationen ein und kann als neue Finanzquelle das EU-Budget für die Zukunftsaufga- ben entlasten.
- Verbraucherinnen und Verbraucher müssen europaweit besser geschützt werden. Das gilt besonders für einen besseren Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen besser über ihre Rechte aufgeklärt werden und ausreichende Informationen erhalten. Eine EU-weite Harmonisierung der Verbraucherschutzstandards auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner darf nicht stattfinden. Für die Durchsetzung von Verbraucherrechten müssen bessere Entschädigungsregeln eingeführt werden. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist gegen Sammel- klagen nach amerikanischem Muster, aber sehr wohl für neue Formen kollektiver Rechtsdurchsetzung.
- Das Ermöglichen der Teilhabe an der Wissensgesellschaft für alle Men- schen. Grenzüberschreitende Lebens- und Lernerfahrungen der Einzelnen und ihre Förderung durch EU-Programme sind ein wesentlicher Beitrag hierzu. Sie machen Europa für jeden einzelnen Bürger und jede Bürgerin er- lebbar und fördern die weitere Integration. Auch müssen die Beschränkun- gen in der beruflichen Mobilität endlich abgebaut werden. Außerdem muss die EU einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die soziale Auswahl beim Zugang zu höherer Bildung in allen Mitgliedstaaten gezielt zu verringern.
- Im Rahmen der EU-2020-Strategie muss sich die EU für eine gerechte Ge- staltung der Globalisierung einsetzen. Bei der Durchsetzung eines gerechten Klimaschutzabkommens und eines fairen, multilateralen Handelssystems muss die EU Vorreiter werden. Dazu gehört die Bereitschaft, bis 2020 ansteigend bis zu 30 Mrd. Euro jährlich für die Finanzierung von Minde- rungs- und Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern zur Verfügung zu stellen, ohne dies auf die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit an- zurechnen. Zur Erfüllung der Millenium Development Goals müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Zusagen einhalten und ihre Haushalte für die Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2010 auf mindestens 0,51 Pro- zent und bis zum Jahr 2015 auf mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttonational- einkommens aufstocken.
Berlin, den 3. März 2010
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung
Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns erneut vor Augen geführt, wie stark die Länder in Europa voneinander abhängen. Nicht nur der Binnenmarkt ist vereinheitlicht, sondern auch die Arbeits- und Finanzmärkte sind miteinan- der verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig, so dass heutzutage keine Krise mehr an den nationalen Grenzen haltmacht. Die EU muss gemeinsam aus der Krise lernen und in Zukunft Risiken, die zur Entstehung der Krise beigetragen haben, vermeiden. Die Festlegung von gemeinsamen Prioritäten und Zielen und ein stark koordiniertes Vorgehen bei der Umsetzung der Strategie EU 2020 ist somit entscheidend. Im Gegensatz zu ihrer Vorgänger-Strategie darf die EU 2020 nicht blind gegenüber bestimmten Risiken sein, wie eine bisher mangel- hafte Aufsicht der Finanzmärkte.
Die Strategie
2020 muss jedoch mehr sein als eine bloße Exitstrategie aus der Wirtschafts- und Finanzkrise, denn ohne eine starke und integrierte Umwelt- und Sozialpolitik wird es langfristig keine wirtschaftliche Entwicklung geben. Die einseitige Ausrichtung der Lissabon-Strategie auf Wachstum und Industrie war falsch. Sozialpolitik, ökologische Nachhaltigkeit, Bürgernähe, wirtschafts- politische Koordinierung und Bildung und Forschung müssen wichtige Grund- pfeiler der Strategie werden.
Schlüsselelemente für ein Soziales Europa sind: Faire Arbeitsbedingungen, soziale Mindeststandards, gute Arbeitnehmerrechte, eine Stärkung der sozialen Sicherungssysteme und die europaweite Anerkennung von Abschlüssen. Das Recht jeder EU-Bürgerin und jedes EU-Bürgers auf Gleichbehandlung mit in- ländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern muss endlich umgesetzt werden. Die EU muss für einen solidarischen Ausgleich zwischen den Regio- nen, Schutz vor einem Wettbewerb um die niedrigsten Sozialstandards und ein Leben frei von Diskriminierung, Armut und sozialer Ausgrenzung stehen. Metropolregionen als Wachstumszentren und gesellschaftliche Knotenpunkte in denen sich vielfältige soziale Probleme ballen, brauchen eine stärkere Zu- wendung von Seiten der EU.
Ziel für ein „grünes“ Europa muss sein, die Europäische Union zum kohlen- stoffarmen und ressourceneffizientesten Wirtschaftsraum zu machen. Gas und Kohle sind keine Energiequellen der Zukunft. Zudem leiden europäische Volkswirtschaften genauso wie Verbraucherinnen und Verbraucher unter stei- genden Preisen bei Erdgas und Erdöl. Die biologische Vielfalt ist überlebens- wichtig für Europa. Mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen wie CO2-Abscheidung sowie Meeres- und Wasserregulierung ist sie ein wesent- liches Element der nachhaltigen Entwicklung. Der Verlust an biologischer Viel- falt stellt neben dem Klimawandel die größte globale Umweltgefährdung dar und führt zu beträchtlichen Wirtschafts- und Wohlfahrtsverlusten. Der Biodiversitätsschutz muss als Querschnittsaufgabe aller Politikbereiche begriffen werden.
Ein Europa der Bürgerinnen und Bürger muss ein demokratisches und transpa- rentes Europa sein, welches die Öffentlichkeit an so wichtigen Vorhaben wie der Strategie 2020 teilhaben lässt. Der Erfolg der Strategie hängt in erster Linie von der Umsetzung in den EU-Mitgliedstaaten und ihren Regionen ab und muss von den Menschen in der EU unterstützt werden. Die Schwäche der bis- herigen Strategie hat gezeigt: Wenn technokratische Prozesse den politischen Willen und die demokratische Mehrheitsfindung ersetzen, kann der notwendige Reformprozess nicht gelingen.
Ein Europa mit funktionierendem Binnenmarkt und einer gemeinsamen Wäh- rung braucht eine stärker europäisch koordinierte Wirtschaftspolitik. Viel zu lange wurden die negativen Folgen der unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU-Mitgliedsländer und der daraus resultierenden Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen ignoriert. Die Europäische Union – und insbesondere die Euro-Zone – kann sich gegenläufige wirtschaftspolitische Strategien nicht mehr leisten. Wenn jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht. Am Ende verlieren alle, wenn nationale Wettbewerbsfähigkeit durch Verzicht, Steu- ersenkungswettlauf oder Lohndumping erhöht wird. Notwendig ist ein koordi- nierter Grundansatz, Scheindebatten der Bundeskanzlerin über eine neue Euro- päische Wirtschaftsregierung reichen nicht. Jährliche Empfehlungen zur makroökonomischen Politik, die auch die Lohnpolitik der Mitgliedstaaten um- fassen, sollten hierfür von einem wissenschaftlichen Gremium erarbeitet und von den entscheidenden wirtschaftspolitischen Gremien auf europäischer und nationaler Ebene debattiert werden. Die Arbeit des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland kann für diesen Prozess als Vorbild dienen. Europa muss wirtschaftlichen Erfolg auf Innovation und Technologieführerschaft sowie starke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bauen. Dafür sind hohe Investitionen in Forschung und Bildung notwendig.
Darüber hinaus müssen die europäischen Finanzmärkte krisenfest geordnet werden. Es darf kein „Weiter so“ für die hochspekulative und systemrelevante Kasinomentalität geben, alle Märkte, Institutionen und Produkte müssen beauf- sichtigt werden.
Die Finanzinstitute müssen zukünftig höheres und besseres Eigenkapital vorhalten und dezentraler wirtschaften. Ein zentrales Reform- projekt der EU ist die Finanzumsatzsteuer, die Spekulationen eindämmt und als neue Finanzquelle das EU-Budget für Zukunftsaufgaben entlastet. Finanzunter- nehmen, die besonders stark vom gemeinsamen europäischen Markt profitieren, sollen zu einer direkten Finanzierung der EU herangezogen werden. Die Rolle der Finanzmärkte ist entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung mit öko- nomischer Vernunft, sozialem Ausgleich und dem Schutz der natürlichen Ressourcen. Für Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels und des Biodiversitätsverlustes werden Milliardenbeträge benötigt. Geldanlagen mit sozial-ökologischer Zielsetzung haben sich in der Krise zudem als stabil herausgestellt. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will deshalb Finanz- investitionen nachhaltiger ausrichten, Standards und Ausschlusskriterien defi- nieren und echte – auch ökologische – Transparenz schaffen.
Ein innovatives Europa: Die aktive Förderung von Bildung, Forschung, Wis- sen, Kultur und Sport ist Ausdruck unserer Werteorientierung. Zugang zu opti- maler Bildung ist eine elementare Frage der Gerechtigkeit. Im Übergang zur Wissensgesellschaft wird sie zu einem entscheidenden Baustein unserer Zu- kunftspolitik auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschafts- weise. Dafür ist ein umfassender und grenzüberschreitender Zugang zu Bildung und Ausbildung notwendig. Die Entwicklung der EU wird wesentlich davon abhängen, ob gut ausgebildete, innovative und phantasievolle Menschen sich in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur engagieren.
Ein Europa in globaler Verantwortung bedeutet, dass die verschiedenen EU- Politiken konsequent in den Dienst der Armutsbekämpfung, der gerechteren Verteilung des globalen Reichtums und der nachhaltigen Entwicklung gestellt werden müssen. Politikbereiche wie Landwirtschaft, Handel und Fischerei müssen so reformiert werden, dass sie eine nachhaltige Entwicklung nicht mehr konterkarieren. So müssen z. B. im Agrarbereich handelsverzerrende direkte und indirekte Subventionen deutlich verringert und alle Formen der Export- subventionierung so schnell wie möglich abgeschafft werden.
(Deutscher Bundestag; Drucksache 17/898; 17. Wahlperiode; 03. 03. 2010)
Hier ist das Dokument als PDF einsehbar: antrageu2020-fuereinoekoundsozeuropa.pdf