Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren!
Ich habe nur vier Minuten Redezeit. Darum werde ich nichts davon abgeben. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Aber Sie sind frei, Zwischenfragen zu stellen, um meine Redezeit zu verlängern.
(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Nein!)
Auch wir als Grüne sind der Meinung, dass das soziale Europa gestärkt werden muss. Die wichtigste Grundannahme, die wir dabei haben, ist: Wer mehr soziales Europa will, muss Europa mehr für ein soziales Europa tun lassen. Das heißt: Soziales Europa geht nur mit mehr Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Europa muss mehr zwischen nationalstaatlichen Systemen koordinieren, und es muss mehr harmonisieren, wo Mindeststandards gefragt sind. Europa muss sich in mancher Hinsicht auch mehr aus Dingen heraushalten. Der Vertrag von Lissabon regelt das zum Beispiel für den Bereich der Daseinsvorsorge. Dass die Wasserversorgung in kommunaler Hand bleiben kann, wird durch den Vertrag von Lissabon geregelt. Das ist ein weiterer Punkt des sozialen Europas im Lissabonner Vertrag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Trotzdem hat sich auch nach unserer Analyse eine Schieflage entwickelt. Im Laval-Urteil hat der EuGH eine Abwägung zwischen den sozialen Grundrechten, die in Art. 2 und in den dazugehörigen Dokumenten geregelt sind, und der Dienstleistungsfreiheit vorgenommen. Diese Abwägung zu machen, ist schon schwierig, aber aus unserer Sicht ist vor allem das Ergebnis falsch. Das Rüffert-Urteil des EuGH und das Urteil des Verwaltungsgerichts Celle besagen ausdrücklich, dass bei der Entsendung von Arbeitnehmern der geringere Lohn einen Wettbewerbsvorteil darstelle, der zumutbar sei. Wir halten das für falsch. Aber es war nicht nur der EuGH, der das festgestellt hat, sondern zuerst hat das Verwaltungsgericht Celle ein entsprechendes Urteil gefällt. Ich frage mich, warum eigentlich der große Sturm der Entrüstung nicht schon bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Celle ausgebrochen ist.
Richtig ist: Wir wollen entgegensteuern. Wir wollen die sozialen Grundrechte stärken; wir wollen eine Gleichwertigkeit von sozialen Grundrechten und den Grundfreiheiten des Binnenmarkts herstellen. (Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir finden die Vorschläge zur Fortschrittsklausel, die der Europäische Gewerkschaftsbund gemacht hat, interessant. Aber Sie können nicht von mir erwarten, dass ich das, was der EGB aufgeschrieben hat, als richtig bezeichne. Darin sind auch viele Kinken. Einen grundsätzlichen Vorrang von sozialen Grundrechten vor jeglichem Primärrecht zu konstruieren, halte ich für wagemutig und auch für falsch. Es gibt primärrechtliche Ziele, für deren Verankerung wir Jahrzehnte gekämpft haben: Nachhaltigkeit, Ökologie und andere. Grundsätzlich gegenüber allem Primärrecht einen Vorrang zu definieren, halte ich für nicht zielführend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Die Schwäche des Antrags der Linken ist, dass nur irgendeine Klausel gefordert wird. Sie geben noch nicht einmal Kriterien an, wie diese Klausel gestaltet sein sollte. Wir freuen uns auf die Debatte, und ich freue mich über die vier Minuten Redezeit, die leider fast schon vorbei sind. Zustimmen können wir dem Antrag nicht. Wir werden uns enthalten. Noch ein Punkt in dem Antrag ist aus unserer Sicht demokratiestörend. Sie wollen die Bundesregierung schon jetzt darauf festlegen, welche Kriterien der Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten erfüllen soll. Im Lissabonner Vertrag haben wir erreicht, dass die Bürgerinnen und Bürger Einfluss darauf nehmen können, wer Präsident wird; denn das Ergebnis der Europawahl soll darüber mitbestimmen, wer das wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diesen Punkt der Demokratisierung lehnen Sie mit Ihrem Antrag ab. Das ist Quatsch. Wissen Sie, was wir machen? Wir haben angekündigt, dass wir im Europaparlament nur einen Kommissionspräsidentschaftskandidaten mit unserer Stimme unterstützen, der sich verpflichtet, den sozialen Fortschritt in Europa voranzutreiben und die Forderung des Anderson-Berichts – der übrigens auch mit der SPD beschlossen wurde ‑, nämlich über eine Fortschrittsklausel nachzudenken, zu unterstützen. Das ist der Maßstab, den wir im EP an den neuen Kommissionspräsidentschaftskandidaten legen. So macht man das richtig, nicht über einen Antrag wie den, den Sie gestellt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Deswegen enthalten wir uns. Ich habe meine Redezeit wenigstens genau eingehalten. Das ist eine kleine Hommage an die Vorredner. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)